Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit
Das Europäische Parlament und der Ministerrat der EU beraten derzeit über zwei Vorschläge der Europäischen Kommission vom 1. Dezember 2021, die darauf abzielen, die von den digitalen Technologien gebotenen Möglichkeiten zu nutzen, um den Zugang zur Justiz und deren Funktionsweise zu verbessern. Gegenständlich ist eine Verordnung zur Festlegung von Normen für die digitale Kommunikation in Verfahren der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil-, Handels- und Strafsachen sowie eine Richtlinie zur Angleichung der bestehenden Kommunikationsvorschriften an die Bestimmungen der vorgeschlagenen Verordnung.1
Hintergrund
Im heutigen EU-Binnenmarkt kommt es zu zahlreichen grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten. Die verschiedenen Mitgliedstaaten und Justizsysteme müssen daher, wie auch um eine wirksame Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität zu gewährleisten, auf enge Zusammenarbeit setzen. Hierfür müssen die verschiedenen nationalen Ermittlungsbehörden und Gerichte bei der Klärung von Rechtsstreitigkeiten sowie bei der Ermittlung und Verfolgung von Straftaten in der Lage sein, sich gegenseitig zu unterstützen, indem sie Informationen und Beweise sicher und schnell austauschen.
Heute erfolgt der Datenaustausch im Rahmen der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit noch überwiegend auf Papier. Dies ist langsamer und weniger effizient als der Einsatz elektronischer Mittel. Wie die COVID-Pandemie gezeigt hat, sind die traditionellen Kommunikationskanäle auch besonders krisenanfällig.
Am 15. November 2021 wurde der Vorschlag der Kommission zum sog. e-CODEX (e-Justice Communication via Online Data Exchange) angenommen. Der e-CODEX verbindet die Justiz-IT-Systeme der EU-Mitgliedstaaten zu einem sicheren, dezentralisierten Kommunikationsnetz. Der nächste Schritt in der Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit folgte bald.
Die am 1. Dezember 2021 veröffentlichte Initiative zielt darauf ab, die Effizienz und Widerstandsfähigkeit der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit in der EU durch eine verstärkte Digitalisierung in Zivil- (einschließlich Familien-), Handels- und Strafsachen zu erhöhen und den Zugang zum Rechtssystem für natürliche und juristische Personen zu verbessern.
Mit dieser Initiative sollen zwei Hauptprobleme bekämpft werden: i) Ineffizienzen, die die grenzüberschreitende justizielle Zusammenarbeit beeinträchtigen, und ii) Hindernisse für den Zugang zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen.
Durch die Verlagerung der Kommunikation verspricht sich die Kommission von diesen Maßnahmen positive Auswirkungen auf die Umwelt, wie auch eine jährliche Einsparung von 25 Mio. EUR an Versand- und Papierkosten.
Flankiert wurde dieser Vorschlag durch eine weitere Initiative der Kommission zur Stärkung der Zusammenarbeit gemeinsamer Ermittlungsgruppen in Strafrechtssachen durch die Entwicklung einer Plattform, welche diesen Ermittlungsgruppen einen raschen und unkomplizierten Austausch von Informationen und Beweismitteln ermöglichen soll.2
Der nächste Schritt ist die Beratung des Europäischen Parlaments und des Ministerrats der EU über die Vorschläge der Kommission.
Wesentliche Neuerungen
Die allgemeinen Ziele des Vorschlags zur Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit sollen durch folgende Maßnahmen erreicht werden:3
- Verfahrensparteien soll die elektronische Kommunikation mit den zuständigen Behörden oder die Einleitung von Gerichtsverfahren gegen eine Partei aus einem anderen Mitgliedstaat ermöglicht werden. Bürger und Unternehmen werden die Möglichkeit haben, mit Gerichten und anderen Justizbehörden der Mitgliedstaaten auf elektronischem Wege zu kommunizieren.
Im Rahmen der justiziellenZusammenarbeit und des Datenaustausches zwischen den zuständigen nationalen Behörden (vorbehaltlich begründeter Ausnahmen) in Zivil-, Handels- und Strafsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen wird der digitale Kanal zum obligatorischen Standard für die gesamte Kommunikation.
Zu diesem Zweck können Behörden nationale IT-Portale nutzen, sofern solche vorhanden sind, oder alternativ einen europäischen Zugangspunkt, der auf dem europäischen E-Justiz-Portal eingerichtet ist. - Um diese Möglichkeit nutzen zu können, müssen Bürger und Unternehmen entweder eine qualifizierte oder fortgeschrittene elektronische Signatur und/oder ein Siegel besitzen. Solche elektronischen Signaturen und Siegel werden in der gesamten Union anerkannt.
Es soll sichergestellt werden, dass elektronische Identitäten, Signaturen und Siegel im Rahmen des digitalen Austauschs gerichtlicher Schriftstücke im Einklang mit der eIDAS-Verordnung (Verordnung (EU) 910/2014) verwendet werden können. - Die Nutzung von Videokonferenzen oder anderer Fernkommunikationstechnik bei mündlichen Verhandlungen in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen soll unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden.
- Es soll eine Möglichkeit zur Zahlung von Gerichtsgebühren im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Zivil- und Handelssachen auf elektronischem Wege geboten werden.
- Mit den neuen vorgeschlagenen Rechtsvorschriften wird die Nutzung des digitalen Kanals für die gesamte grenzüberschreitende justizielle Zusammenarbeit in der Union und für den Datenaustausch zwischen den zuständigen nationalen Behörden obligatorisch, vorbehaltlich bestimmter begründeter Ausnahmen.
Für Verfahrensparteien soll eine fakultative Möglichkeit zur digitalen Übermittlung von Ersuchen, Dokumenten und Daten zwischen nationalen Behörden und Gerichten gewährleistet werden. - Die vorgeschlagenen Rechtsvorschriften sollen garantieren, dass elektronische Dokumente gültig sind und von den zuständigen Behörden nicht allein aufgrund ihrer elektronischen Form abgelehnt werden können oder ihre Rechtswirkung verlieren.
Weiters soll sichergestellt werden, dass die EU-Mitgliedstaaten in grenzüberschreitenden Zivilverfahren die elektronische Kommunikation von Bürgern und Unternehmen akzeptieren, ohne ihnen die Möglichkeit zu nehmen, auf Papier zu kommunizieren. Zu diesem Zweck wird ein Zugangspunkt für die Einleitung dieser Verfahren und die Einreichung von Anträgen entwickelt und auf dem europäischen e-Justiz-Portal eingerichtet. - Die Gewährleistung einer sicherenDatenverarbeitung soll durch Festlegung der Zuständigkeit der jeweiligen für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten Verantwortlichen sowie der Auftragsverarbeiter erfolgen. Hierfür wird eine Beschreibung der allgemeinen Anforderungen an geeignete technische und organisatorische Maßnahmen zur Verfügung gestellt.
- Die Vernetzung der IT-Systeme der verschiedenen Mitgliedstaaten soll vorangetrieben werden, sodass diese interoperabel sind und miteinander kommunizieren können, wie auch mit den relevanten Einrichtungen der Union.
Beurteilung
Die Änderungen sind aus Umweltschutz- und Effizienzgründen sehr zu begrüßen. Die Abhaltung mündlicher Verfahren durch Videokonferenz könnte zu zügigeren Verfahren und weniger Reisen führen.
Ein großer Vorteil digitaler Aktenführung ist die Möglichkeit mehrerer Beteiligter gleichzeitig auf einen Akt zugreifen zu können. Die Versendung teilweise umfangreicher Akten und deren Beilagen oder die Herstellung von Kopien werden hierdurch obsolet. Mögliche Probleme werden sich im Zusammenhang mit Augenscheingegenständen und Originalurkunden ergeben.
Insbesondere vor datenschutzrechtlichem Hintergrund interessant ist die technische Möglichkeit den Zugriff von Personen nur auf gewisse Teile eines Aktes bzw. zeitlich befristet freizuschalten. Praktische Anwendung könnte dieses Tool für die Gutachtenerstellung von Sachverständigen finden, da diese häufig nur bestimmte Teile eines Aktes benötigen.
In Deutschland trat bereits mit 1. Jänner 2022 die Pflicht zur digitalen Kommunikation mit Gerichten für die Anwaltschaft in Kraft. In Österreich liegt derzeit ein Ministerialentwurfvor, über den im Nationalrat noch zu entscheiden sein wird. Dieser beinhaltet eine Zivilverfahrens-Novelle, welche digitale Verfahrensführung, digitale Akteneinsicht und Video-Konferenz-Verfahren im nationalen Recht verankern soll. Auch hier ist angedacht auf digitale Signaturen statt handschriftliche Unterfertigungen zu setzen, um parallel geführte Akten in Papierform zu vermeiden.
Zusammenfassung
Das Europäische Parlament und der Ministerrat der EU beraten derzeit über die Vorschläge der Kommission zur Digitalisierung der grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit. Die wesentlichen Neuerungen umfassen:
- elektronische Kommunikation für Verfahrensparteien und bei justizieller Zusammenarbeit
- Videokonferenzen bei mündlichen Verhandlungen
- Anerkennung digitaler Identitätsprüfungen, Signaturen und Siegel
- Elektronische Zahlung von Gerichtsgebühren
- Digitalen Übermittlung von Ersuchen, Dokumenten und Daten
- Keine Ablehnung und kein Verlust der Rechtswirkung von Dokumenten aufgrund der digitalen Form
- Gewährleistung sicherer Datenverarbeitung
- Vernetzung der IT-Systeme zwischen den Mitgliedstaaten.
1Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the digitalisation of judicial cooperation and access to justice in cross-border civil, commercial and criminal matters, and amending certain acts in the field of judicial cooperation, 2021/0394 (COD), “Vorschlag der Kommisssion”
2Proposal for a Regulation establishing a collaboration platform to support the functioning of joint investigation teams and amending Regulation (EU) 2018/1726.
3Vorschlag der Kommission, S. 2 .
Weitere Autor*innen:
Daria Dolina
Hinweis: Dieser Blog stellt lediglich eine generelle Information und keineswegs eine Rechtsberatung von Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH dar. Der Blog kann eine individuelle Rechtsberatung nicht ersetzen. Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH übernimmt keine Haftung, gleich welcher Art, für Inhalt und Richtigkeit des Blogs.