Update Anlegerschutz: ESMA Leitlinien über die Angemessenheitsprüfung unter MiFID II
Am 03.01.2022 veröffentlichte die European Securities and Markets Authority (ESMA) ihre Leitlinien über die Angemessenheit und die Anforderungen an Execution-Only Geschäfte unter MiFID II (Guidelines on certain aspects of the MiFID II appropriateness and execution-only requirements, ESMA35-43-2938). Das MiFID-II-Rahmenwerk stellt ein wichtiges Element des Anlegerschutzes bei der Erbringung von „beratungsfreien“ Wertpapierdienstleistungen dar, also insbesondere solchen, die keine Anlageberatung oder Portfolioverwaltung sind.
Die neuen Leitlinien decken mehrere wichtige Aspekte des Prozesses zur Beurteilung der Angemessenheit ab. Unter anderem sind das Informationen, die den Kunden über den Zweck der Angemessenheitsprüfung zur Verfügung gestellt werden müssen, die notwendigen Vorkehrungen, um Kunden und Produkte zu verstehen, der Abgleich gewisser Kundeneigenschaften mit Produkttypen und die Wirksamkeit von Warnungen. Darüber hinaus werden andere zusammenhängende Anforderungen thematisiert, wie z.B. die Ausnahmeregelung für Execution-Only Geschäfte, Aufzeichnungen und Kontrollen.
Zusammenfassend legen die Leitlinien insbesondere folgende Anforderungen fest:
Leitlinie 1: Information an Kunden zur Angemessenheitsprüfung und deren Zweck bei beratungsfreien Geschäften
Kunden sollten rechtzeitig vor Erbringung von beratungsfreien Dienstleistungen in einer klaren und einfachen Sprache über die Angemessenheitsprüfung und deren Zweck (Handel im besten Interesse des Kunden) informiert werden. Der Kunde soll verstehen, wie wichtig es ist, dass die Informationen aktuell, genau und vollständig sind. Zudem sollen Informationen (i) über mögliche Konsequenzen, wenn der Kunde keine Informationen für eine Angemessenheitsprüfung zur Verfügung stellt und daher keine Bewertung vorgenommen werden kann sowie (ii) eine kurze Erläuterung der wesentlichen Unterschiede zwischen beratungsgestützten und beratungsfreien Wertpapierdienstleistungen enthalten sein. Den Kunden soll dabei nicht vermittelt werden, dass die Nicht-Zurverfügungstellung von Informationen eine Option wäre.
Leitlinie 2: Vorkehrungen zur Kundenanalyse und Auswahl der Produkttypen
Unternehmen müssen angemessene Strategien und Verfahren nutzen, um von (potenziellen) Kunden die Kenntnisse zu ermitteln, die in Bezug auf die gegenständliche Wertpapierdienstleistung bzw. das Anlageprodukt relevant sind. Dadurch sollten alle erforderlichen Informationen gesammelt werden, um die Angemessenheitsprüfung in Bezug auf die spezifischen angebotenen oder nachgefragten Produkttypen durchzuführen. Diese Informationssammlung (z.B. mittels Fragebögen) sollte einerseits spezifisch, andererseits aber klar genug sein, damit Kunden sie leicht verstehen (insbesondere im Online-Vertrieb). Das Ergebnis der Informationssammlung sollte das Erfahrungsprofil des Kunden widerspiegeln. Die Leitlinien enthalten konkrete Beispiele für Fragestellungen an Kunden.
Leitlinie 3: Umfang der Kundeninformationen (Verhältnismäßigkeit)
Bei der Festlegung des Informationsumfangs zur Ermittlung der Erfahrung der (potenziellen) Kunden, sollten Art und Merkmale der Anlageprodukte oder Wertpapierdienstleistungen (d.h. Grad der Komplexität und des Risikos) und die Eigenschaften des Kunden berücksichtigt werden. Je komplexer und riskanter die Produkte sind, umso ausführlicher ist der Kunde zu befragen. Bei einem Bündel an Produkten, soll zudem die Angemessenheit der Kombination der Produkte geprüft werden bzw. ob gerade eine Kombination eine erhöhte Komplexität oder ein erhöhtes Risiko darstellt.
Leitlinie 4: Verlässlichkeit der Kundeninformationen
Unternehmen sollen angemessene und geeignete Instrumente verwenden, um die vom Kunden bereitgestellten Informationen auf ihre Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Kohärenz zu prüfen. Die Informationen sind gesamtheitlich zu beurteilen, um Unstimmigkeiten zu erkennen. Ein übermäßiges Abstellen auf die Selbsteinschätzung der Kunden ist zu vermeiden – insbesondere bei widersprüchlichen Angaben sind Klarstellungen einzufordern.
Leitlinie 5: Aktualität der Kundeninformationen
Unternehmen sollen stets aktuelle Informationen einholen oder Verfahren zur Aktualisierung der vom Kunden eingeholten Informationen festlegen, um sicherzustellen, dass die Informationen für die Zwecke der Angemessenheitsprüfung aktuell, richtig und vollständig sind. Dazu sollten Unternehmen Verfahren einführen, die darauf abzielen, dass Kunden, mit denen eine laufende Geschäftsbeziehung besteht, regelmäßig Informationen über relevante Änderungen oder Aktualisierungen ihrer Angaben zur Verfügung stellen und diese Angaben überprüft werden können. Zudem sollten angemessene Verfahren eingeführt werden, um mit Situationen umzugehen, in denen Kunden nicht auf Fragen zu Änderungen oder Aktualisierungen der ursprünglich bereitgestellten Informationen reagieren.
Leitlinie 6: Kundeninformationen für juristische Personen oder Gruppen
Unternehmen sollen ex-ante in Form einer internen Richtlinie festlegen, wie die Angemessenheitsprüfung in Situationen durchzuführen ist, in denen ein Kunde eine juristische Person oder eine Gruppe von zwei oder mehreren natürlichen Personen ist oder in denen eine oder mehrere natürliche Personen von einer anderen natürlichen Person vertreten werden. Ist nach nationalem Recht ein Vertreter vorgesehen bzw. wird ein solcher benannt, sollten Informationen über dessen Kenntnisse und Erfahrungen eingeholt werden und die Angemessenheitsprüfung hat in Bezug auf diesen Vertreter zu erfolgen. Bei mehreren Vertretern ist von der Person mit der wenigsten Erfahrung als Referenzperson für die Angemessenheitsprüfung auszugehen.
Leitlinie 7: Notwendige Vorkehrungen zur Ermittlung des Verständnisses von Anlageprodukten
Unternehmen sollen sicherstellen, dass Strategien und Verfahren eingeführt werden, um die Eigenschaften, die Natur und die Merkmale von Anlageprodukten zu verstehen und um zu beurteilen, ob diese Produkte für die Kunden angemessen sind. Unternehmen sollen zudem Strategien und Verfahren anwenden, um die unterschiedlichen Merkmale und relevanten Risikofaktoren (z.B. Kreditrisiko, Marktrisiko & Liquiditätsrisiko) der angebotenen oder nachgefragten Anlageprodukte verhältnismäßig zu berücksichtigen. Die verwendeten Informationen zur Klassifizierung der Produkte sollten regelmäßig überprüft werden, um alle relevanten Änderungen in Bezug zur Einstufung des Anlageprodukts berücksichtigen zu können.
Leitlinie 8: Gewährleistung einer einheitlichen Angemessenheitsprüfung
Um die Angemessenheit von Wertpapierdienstleistungen oder Anlageprodukten für (potenzielle) Kunden festzustellen, sollten Strategien und Verfahren genutzt werden, die alle Informationen zu den Kenntnissen und Erfahrungen des Kunden die für eine Beurteilung der Angemessenheit erforderlich sind, sowie relevante Merkmale und Risiken der Anlageprodukte berücksichtigen. Wenn festgestellt wird, dass Wertpapierdienstleistungen oder Anlageprodukte für den Kunden nicht angemessen sind soll dieser darüber mittels klarer und nicht irreführender Warnung informiert werden. Die Strategien und Verfahren sowie die an Kunden zu erteilenden Warnungen sollen in einer internen Richtlinie festgelegt werden.
Leitlinie 9: Effektivität von Warnungen
Es müssen Warnungen an den Kunden übermittelt werden für den Fall, dass Kunden keine oder nur unzureichende Angaben zu ihren Kenntnissen oder Erfahrungen machen oder die Bewertung der Angaben ergibt, dass die angebotenen oder gewünschten Wertpapierdienstleistungen oder Anlageprodukte für den Kunden nicht angemessen sind. Zur Sicherstellung der Wirksamkeit von Warnungen an den Kunden, müssen diese deutlich sichtbar, eindeutig und nicht irreführend sein.
Leitlinie 10: Qualifikation von Mitarbeitern
Unternehmen sollen sicherstellen, dass Mitarbeiter, die in die Angemessenheitsprüfung involviert sind, sich ihrer Rolle bewusst sind und über angemessene Fähigkeiten und Kenntnisse zu den regulatorischen Anforderungen und Verfahren verfügen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die Mitarbeiter sollen diesbezüglich regelmäßig geschult werden.
Leitlinie 11: Dokumentation
Die Angemessenheitsprüfung ist im Rahmen der Aufzeichnungs- und Aufbewahrungsvorkehrungen zu dokumentieren. Es ist sicherzustellen, dass ex-post durch die Aufzeichnungen die Ergebnisse der Angemessenheitsprüfung nachvollziehbar und diese für die zuständigen Personen und Behörden zugänglich sind.
Leitlinie 12: Ermittlung von Situationen, die eine Angemessenheitsprüfung erfordern
Unternehmen sollen geeignete Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass sie Situationen erkennen, in denen eine Angemessenheitsprüfung erfolgen muss. Die Durchführung einer solchen Bewertung ist in jenen Situationen nicht erforderlich, in denen eine „Eignungsprüfung“ durchgeführt werden muss. Es ist sicherzustellen, dass eine klare Unterscheidung zwischen Anlageberatung und beratungsfreien Geschäften einerseits sowie zwischen beratungsfreien Geschäften und Geschäften, die unter die Ausnahmeregelung für Execution-Only Geschäfte fallen, besteht.
Leitlinie 13: Kontrollen
Unternehmen sollen über geeignete Überwachungsmaßnahmen und Kontrollen verfügen, um die Einhaltung der Angemessenheitsanforderungen zu gewährleisten. Dies ist insbesondere bei automatisierten Prozessen zur Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigen.
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