Entwurf der überarbeiteten Bekanntmachung über die Marktdefinition: Digitale Märkte im Fokus
Die Europäische Kommission veröffentlichte am 8.11.2022 einen Entwurf der überarbeiteten Bekanntmachung zur Definition der relevanten Märkte für wettbewerbsrechtliche Zwecke. Bei dem Entwurf handelt es sich um die erste Überarbeitung dieser Bekanntmachung seit nahezu 26 Jahren. Insbesondere enthält der Entwurf auch Erläuterungen zur Marktabgrenzung bei mehrseitigen Plattformen und digitalen Ökosystemen.
1. Einleitung
Ohne Zweifel hat sich seit der Veröffentlichung der Bekanntmachung über die Marktdefinition im Jahr 1997 vieles in der Wirtschaft geändert, vor allem in Bezug auf die Entwicklung von digitalen Märkten. Den Fokus legt der neue Entwurf darauf, die methodischen und prozessualen Herausforderungen bei der Marktabgrenzung im Kontext von digitalen Märkten, Innovationsmärkten und der Globalisierung zu bewältigen. Im Folgenden werden insbesondere die Neuerungen des Entwurfs hinsichtlich der Marktabgrenzung bei mehrseitigen Plattformen erläutert.
2. Allgemeine Neuerungen
Die Marktdefinition dient dazu, den relevanten Markt zu bestimmen, anhand dessen insbesondere die Marktanteile von Unternehmen ermittelt, aber auch die Marktstruktur an sich bestimmt wird. Im Vergleich zur Mitteilung von 1997 ist der überarbeitete Entwurf der Kommission detaillierter und enthält analytische Elemente, die ua ein besseres Verständnis des digitalen Wettbewerbs ermöglichen. Die überarbeitete Bekanntmachung betont zudem die Funktionen der Marktdefinition und zeigt, dass sie nicht nur zur Feststellung des relevanten Marktes (und daran anknüpfend der Marktmacht) dient, sondern auch als Strukturierungsinstrument und zur Erleichterung der wettbewerblichen Beurteilung. Darüber hinaus werden in der Bekanntmachung nicht-preisbezogene Faktoren wie Innovation, Verfügbarkeit sowie Qualität von Waren und Dienstleistungen berücksichtigt. Auch Qualitätsaspekte wie bspw Haltbarkeit, Nachhaltigkeit, der Wert und die Vielfalt der durch das Produkt gebotenen Nutzungsmöglichkeiten, das vermittelte Bild oder die gebotene Sicherheit eines Produkts, sowie die Verfügbarkeit, Widerstandsfähigkeit der Lieferketten, Zuverlässigkeit der Lieferung und Transportkosten werden aufgelistet.1 Darüber hinaus beinhaltet Rz 55 eine Regelung für Märkte, auf denen in Zukunft strukturellen Veränderungen zu erwarten sind. In sich wandelnden Wirtschaftszweigen kann die Kommission bei der Abgrenzung des relevanten Marktes die zu erwartenden strukturellen, regulatorischen und technologischen Veränderungen berücksichtigen.2
3. Marktabgrenzung mehrseitiger Plattformen
Eine mehrseitige Plattform ist grds eine digitale Plattform, die es verschiedenen Gruppen von Nutzern ermöglicht, miteinander zu interagieren und Geschäfte zu tätigen. Im Unterschied zu konventionellen Unternehmen, die üblicherweise lediglich eine Beziehung zwischen Anbietern und Kunden pflegen, verfügen mehrseitige Plattformen über mindestens zwei Nutzergruppen, die die Plattform gemeinsam nutzen. Typische Beispiele für mehrseitige Plattformen sind Online-Marktplätze wie Amazon oder eBay, aber auch soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn. Ebenso können neuartige KI-Plattformen, wie möglicherweise die von OpenAI bereitgestellte OpenAI-API (Schnittstelle) als mehrseitige Plattformen betrachtet werden. Mit dieser API können verschiedene Unternehmen KI-Produkte entwickeln, die auf der von OpenAI bereitgestellten Grundmodell-Schnittstelle (GPT) basieren.
Die Kommission weist in ihrem Entwurf auch darauf hin, dass Nutzergruppen häufig mit digitalen Produkten zum monetären Nullpreis angeworben werden, um wiederum Nutzer auf anderen Seiten der Plattform zu gewinnen (bspw Unternehmen, die mit diesen Daten zielgerichtete Werbung schalten) und dort andere Produkte zu monetarisieren.3 Jedoch bedeutet die Bereitstellung eines Produkts zum Nullpreis nicht, dass es für dieses Produkt keinen relevanten Markt gibt (vgl bspw sog „Attention-Markets“). In solchen Fällen sind insbesondere nicht-preisliche Elemente4 für die Substitutionsprüfung relevant.
Insbesondere hat die Kommission in dem Entwurf die Bedeutung von indirekten Netzwerkeffekten zwischen verschiedenen Nutzergruppen hervorgehoben.5 Die Interaktionen zwischen verschiedenen Nutzergruppen führen zu Rückkopplungen zwischen den verschiedenen Seiten der mehrseitigen Plattform. Die Kommission berücksichtigt daher auch verstärkt Netzwerkeffekte bei der Abgrenzung der relevanten Märkte und in ihrer wettbewerbsrechtlichen Würdigung In Rz 96 wird dazu erläutert, dass die Bewertung der Nachfragesubstitution und insbesondere die Anwendung des SSNIP-Tests komplexer sein kann, wenn indirekte Netzwerkeffekte vorhanden sind.
Wenn es um die Abgrenzung relevanter Märkte geht, kann die Kommission nach dem Entwurf entweder einen Markt für alle Produkte abgrenzen, die von einer Plattform angeboten werden, oder getrennte Märkte für die auf jeder (Markt-)Seite der Plattform angebotenen Produkte. Um zu prüfen, ob getrennte Märkte abgegrenzt werden sollten, kann die Kommission verschiedene Faktoren berücksichtigen wie bspw die Substituierbarkeit der angebotenen Produkte auf den unterschiedlichen Marktseiten, die Unterschiedlichkeit der anbietenden Unternehmen und die Art der Plattform.6
Darüber hinaus widmet sich der Entwurf in Rz 103 der Thematik der digitalen Ökosysteme. Als Beispiel für ein digitales Ökosystem führt die Kommission ein solches System an, das sich aus Produkten für ein mobiles Betriebssystem zusammensetzt und sowohl Hardware als auch einen Store für Software-Anwendungen umfasst. Digitale Ökosysteme bauen in der Regel auf einer mehrseitigen Plattform auf, wie zum Beispiel die verschiedenen Produkten rund um das iOS-Betriebssystem. Innerhalb solcher Ökosysteme können Primär- und Sekundärprodukte existieren, die die Anwendung der Grundsätze rechtfertigen, die für Anschlussmärkte7 gelten8. Insgesamt sind die Ausführungen in Rz 103 des Entwurfs eher abstrakt und könnten von anschaulichen Beispielen profitieren, um mehr Klarheit für die betroffenen Unternehmen zu schaffen.
4. Resümee
Die Überarbeitung der Bekanntmachung der Europäischen Kommission über die Definition relevanter Märkte für die Zwecke des Wettbewerbsrechts ist ein wichtiger Schritt, um den Herausforderungen der Marktdefinition im Zusammenhang mit digitalen Märkten, Innovation und Globalisierung zu begegnen. Die Kommission betont in ihrer neuen Bekanntmachung insbesondere die Bedeutung von mehrseitigen Plattformen. Der Entwurf greift auch die Thematik der digitalen Ökosysteme auf. Wünschenswert für die Zukunft wäre insbesondere eine regelmäßigere (nicht nur alle 26 Jahre stattfindende) Überarbeitung und Anpassung der Bekanntmachung unter Berücksichtigung der Entwicklung von Märkten. Es bleibt natürlich noch abzuwarten, welchen Inhalt schlussendlich die endgültige Fassung der Bekanntmachung haben wird. Insbesondere wird es auch darum gehen, inwiefern die vielen Änderungsvorschläge in Stellungnahmen, die von Stakeholdern dazu an die Kommission übermittelt wurden, Beachtung finden werden.
1 Siehe dazu Rz 12.
2 Siehe dazu Rz 55, sowie Rz 16.
3 Siehe dazu Rz 97 f.
4 Nicht-preisliche Elemente wurden bereits in unterschiedlichen Entscheidungen angewendet, bspw: EK 27.6.2017, COMP/AT.39740 Google Search (Shopping); EK 18.7.2018, COMP/AT.40099, Google Android; EK 3.10.2014, COMP/M.7217, Facebook WhatsApp.
5 Siehe dazu Rz 94.
6 Siehe dazu Rz 95.
7 Ein Anschlussmarkt ist ein nachgelagerter Markt, auf dem Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden, die in direkter Verbindung zu einem vorgelagerten Markt stehen. Bspw kann sich bei bestimmten langlebigen Produkten (Primärprodukt) ein nachgelagerter Markt für Ersatzteile und Wartung (Sekundärprodukte) entwickeln.
8 Siehe dazu Rz 99 f.
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