Marktmissbrauch: Kommission kündigt Leitlinien an und ändert Durchsetzungsprioritäten
Die Europäische Kommission („EK“) veröffentlichte am 27. März 2023 ein Paket von zwei Initiativen zur Verfolgung des Verbotsdes Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung iSd Art 102 AEUV: (i) eine Aufforderung zur Stellungnahme bis zum 24. April 2023 zu den 2025 geplanten Leitlinien zum Behinderungsmissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen („Leitlinien“), sowie (ii) eine Mitteilung samt Anhang zur Änderung der Erläuterungen zu den Durchsetzungsprioritäten aus 2008 („Änderungsmitteilung“).
A. Hintergrund
Art 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, die den Handel innerhalb der EU beeinträchtigen und den Wettbewerb verhindern oder beschränken kann.
Bisher gab es zur Anwendung des Art 102 AEUV noch keine Leitlinien. Lediglich Erläuterungen zu den Durchsetzungsprioritäten bei der Anwendung von Art 102 EUV (Art 82 EG-Vertrag) konnten zur Auslegung (der Sichtweise der EK) herangezogen werden. Nun sollen die ergangene Rechtsprechung und Erfahrungspraxis der EK in Leitlinien zusammengefasst werden. Bei Leitlinien handelt es sich um rechtlich unverbindliche, aber als „soft law“ bezeichnete Stellungnahmen der EK, welche diese für eine einheitliche Rechtsanwendung in Bereichen der ausschließlichen EU-Zuständigkeit veröffentlicht.
Bis zur Annahme der endgültigen Fassung der Leitlinien ergänzt die Änderungsmitteilung die Erläuterungen zu den Durchsetzungsprioritäten. In diesen erläutert die EK ihre Methode zur Auswahl der Fälle, welche sie vorrangig im Rahmen von Art 102 AEUV zu verfolgen beabsichtig. Ziel dieser Erläuterungen ist es mehr Klarheit und Vorhersehbarkeit darüber zu schaffen unter welchen Umständen die EK Fälle von Behinderungsmissbrauch verfolgt. Im Folgenden werden die maßgeblichen Neuerungen durch die am 27. März 2023 veröffentlichte Änderungsmitteilung dargestellt.
B. Wesentliche Neuerungen der Änderungsmittteilung
1. Marktabschottung
Die Änderungsmitteilung präzisiert und erweitert den in Rz 19 beschriebenen Begriff der wettbewerbswidrigen Marktabschottung („anti-competitive foreclosure“). Dabei werden nun nicht mehr nur Situationen erfasst, in denen das Verhalten des marktbeherrschenden Unternehmens zu einem vollständigen Ausschluss oder einer Marginalisierung des Wettbewerbs führen kann, sondern auch auf Fälle, in denen es zu einer Abschwächung des Wettbewerbs kommen kann, wodurch die Wettbewerbsstruktur des Marktes zum Vorteil des marktbeherrschenden Unternehmens und zum Nachteil der Verbraucher beeinträchtigt wird.
Als zweite wesentliche Neuerung wurde klargestellt, dass die Profitabilität des Verhaltens eines marktbeherrschenden Unternehmens bei der Durchsetzungspriorität der Kommission nicht als Kriterium herangezogen werden soll. Vor dem Hintergrund der bisherigen Durchsetzungspraxis der Kommission und der Rechtsprechung der Unionsgerichte werden somit nicht nur Fälle vorrangig verfolgt, in denen das marktbeherrschende Unternehmen gewinnbringend überhöhte Preise aufrechterhält oder andere Wettbewerbsparameter wie Produktion, Innovation, Vielfalt oder Qualität von Waren bzw Dienstleistungen gewinnbringend beeinflusst, sondern bereits dann, wenn das Unternehmen die verschiedenen Wettbewerbsparameter zu seinen Gunsten und zu Lasten der Verbraucher manipuliert.
2. AEC-Test
Der As-efficient-competitor-Test („AEC-Test“) soll wie sich aus der Entscheidungspraxis der Unionsgerichte ergibt, als eine von mehreren möglichen Methoden der Feststellung der Behinderungswirkung dienen. Die Verwendung des AEC-Tests ist optional und kann je nach Art des Verhaltens oder den relevanten Marktbedingungen ungeeignet sein. Daher ist eine generalisierte Anwendung des AEC-Tests zur Prioritätenbestimmung bei preisbasiertem Ausschlussverhalten nicht gerechtfertigt.
Insbesondere auf Märkten, die durch starke Netzwerkeffekte und hohe Markteintrittsschranken gekennzeichnet sind (bspw mehrseitige Plattformen), möchte die EK auch Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen untersuchen, die geeignet sind, Wettbewerber zu beeinträchtigen, die noch nicht so effizient sind wie das marktbeherrschende Unternehmen. Es werden daher auch Verhaltensweisen von marktbeherrschenden Unternehmen als Durchsetzungspriorität betrachtet, die womöglich keine „As-efficient-Wettbewerber“ (dafür aber andere Wettbewerber) schädigen. Unter bestimmten Umständen kann nämlich echter Wettbewerb auch von Unternehmen ausgehen, die in Bezug auf ihre Kostenstruktur (vorerst noch) weniger effizient sind als ein marktbeherrschendes Unternehmen. Diese Änderung zielt vor allem auf digitale Märkte ab, auf denen (vorerst noch) weniger effiziente Wettbewerber dennoch Wettbewerbsdruck auf das derzeit dominante Unternehmen ausüben können, und dabei vor Behinderungsmissbrauch geschützt werden sollen.
3. Konstruktive Lieferverweigerung
Die Änderungsmitteilung unterscheidet nunmehr deutlicher zwischen einer vollständigen Lieferverweigerung (schlichtweg nicht geliefert) und Fällen, in denen ein marktbeherrschendes Unternehmen den Zugang zu einem bestimmten Input oder einer Ressource an unfaire Bedingungen knüpft (sog „konstruktive Lieferverweigerung“). Die Kommission legte nun – im Lichte der Rechtssache Slovak Telekom v Europäische Kommission (C-165/19 – fest, dass bei konstruktiven Lieferverweigerungen, das in der Rechtssache Bronner (C-7/07) aufgestellte Unerlässlichkeitskriterium, dh die Unerlässlichkeit der verweigerten Dienstleistungen/Produkte oder Infrastruktur) nicht geprüft werden muss. Die Umsetzung in der Änderungsmitteilung ist jedoch fraglich, da ausschließlich alle bisherigen Erläuterungen zu konstruktiven Lieferverweigerungen gestrichen werden und letztere nun im gesamten Dokument keine Erwähnung mehr finden.
4. Margin squeeze
Durch die Änderungsmitteilung wird ein Abschnitt zum sog Margin squeeze (deutsch: Kosten-Preis-Schere) hinzugefügt, aus welchem hervorgeht, dass dieses Verhalten keine Form der Lieferverweigerung ist, sondern eine eigenständige Form des Missbrauchs darstellt, wie es bereits 2011 in der Rechtssache TeliaSonera Sverige (C-52/09) festgestellt wurde. Ein Margin squeeze kann in Situationen auftreten, in denen ein marktbeherrschendes Unternehmen auf dem Vorleistungsmarkt (upstream) wie auch auf dem nachgelagerten Markt (downstream), bspw dem Endkundenmarkt, tätig ist, die Wettbewerber auf diesem nachgelagerten Markt aber die (upstream) Produkte des Marktbeherrschers beziehen. Margin squeeze liegt vor, wenn zwischen dem Preis, den der Marktbeherrscher für sein upstream Produkt und dem, den er selbst auf dem nachgelagerten Markt verlangt, eine so geringe Differenz besteht, die es nicht zulässt, dass ein (ebenso effizienter) Wettbewerber das Produkt downstream zu einem profitablen Preis weiterverkaufen kann. Die Änderungsmitteilung betont auch, dass Fälle von Margin squeeze nicht nur dann verfolgt werden, wenn die betreffenden Produkte oder Dienstleistungen objektivnotwendig sind, um auf dem Endkundenmarkt wirksam zu konkurrieren.
C. Resümee und Ausblick
Insgesamt zeigt sich, dass die EK in Zukunft einen noch stärkeren Fokus auf einen wirkungsorientierten Ansatz legen möchte. Dies sicherlich auch im Hinblick auf die der Änderungsmitteilung zugrunde gelegten Rechtsprechung der europäischen Gerichte. Hiermit stellt sich aber auch eine Reihe von neuen Fragen und damit ein erhöhtes Maß an Rechtsunsicherheit für Rechtsunterworfenen (zB „Abschwächung“ als niedrigere Schwelle gegenüber „Beschränkung“ hinzugefügt), da zahlreiche Präzisierungen und Abgrenzung aus den Erläuterungen entfernt wurden.
Inhaltlich ist insbesondere die Herangehensweise an Fälle von Marktabschottung und konstruktiven Lieferverweigerungen relevant. Im Bereich des AEC-Tests erkennt die Kommission an, dass auch weniger effiziente Wettbewerber von Bedeutung bei der Aufrechterhaltung oder der Bestärkung von wirksamem Wettbewerb sein können. Die Ausweitung der Kontrolle von Verhalten bei der Preisgestaltung, die zur Beeinträchtigung von Wettbewerbern führt, die nicht nur „as-efficient“ sind, sondern denen erst ein Markteintritt oder eine Expansion bevorsteht, wird insbesondere dem dynamischen Charakter der digitalen Märkte gerecht.
Art 102 AEUV stand in der Vergangenheit im Mittelpunkt wichtiger Entscheidungen der EK, zB zu den Märkten für Online-Recherche und -Handel, Betriebssysteme, Prozessoren, Telekommunikation etc Nunmehr hat die EK in der Änderungsmitteilung ihre Prioritätensetzung deutlich gemacht und holt derzeit Stellungnahmen zu ihren geplanten Leitlinien ein. Insbesondere die zunehmende Marktkonzentration führt zu neuen Anwendungsfällen des Art 102 AEUV. Wie die künftigen Leitlinien ausgestaltet sein werden, ist heute noch nicht absehbar. Klar ist jedoch, dass vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität der Wettbewerbssituation und der Rechtsprechung eine umfassende Erarbeitung von Leitlinien zur Anwendung des Art 102 AEUV erforderlich (und begrüßenswert) ist.
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