Gleitzeitvereinbarung: Keine Zeitschulden bei mangelnder Auslastung durch Arbeitgeber*in
Die Vereinbarung von Gleitzeit ermöglicht es Arbeitgeber*innen nicht, ihr Risiko mangelnder Auslastung auf Arbeitnehmer*innen zu überwälzen. Dies bestätigte der Oberste Gerichtshof (OGH) in einer aktuellen Entscheidung (OGH 15.02.2024, 8ObA58/23x). Die Zeitschulden eines Zustellers, der regelmäßig früher mit seiner zugewiesenen Arbeit fertig war, waren der Sphäre der Arbeitgeberin zuzuordnen und durften dem Zusteller nicht abgezogen werden
Im gegenständlichen Fall war der Kläger als Zusteller bei der beklagten Arbeitgeberin tätig. Es gelangte auf das Dienstverhältnis ein in einer Betriebsvereinbarung geregeltes Gleitzeitmodell zur Anwendung. Der Zusteller konnte von dem für seine Zustellbasis festgelegten Dienstbeginn (6:10 oder 6:15 Uhr) seinen tatsächlichen Dienstbeginn in einer Zeitspanne von -10 bzw. +20 Minuten abweichend festlegen. An den jeweiligen Dienstbeginn schloss eine Kernzeit von 4 Stunden an, innerhalb derer jedenfalls gearbeitet werden musste. Das Ende des täglichen Arbeitseinsatzes wurde mit der vollständigen Erfüllung der dienstlichen Aufgaben festgelegt. Der Kläger führte seine Zustellungen sehr zügig und ordnungsgemäß durch und war daher zumeist eine Stunde früher mit seiner Arbeit fertig. Dadurch entstanden Minusstunden auf seinem Zeitkonto, welche fortlaufend in die nächste Gleitzeitperiode übertragen wurden. Der Kläger übernahm zusätzliche Dienste für Kolleg*innen, welche jedoch nicht am Gleitzeitkonto gutgeschrieben, sondern als Überstunden ausbezahlt wurden. Er wurde nie aufgefordert, länger zu bleiben – d.h. seine verbleibende Arbeitszeit „abzusitzen“ – oder langsamer zuzustellen.
Nach der einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses wurden beim Kläger die angesammelten Minusstunden bei der Lohnendabrechnung in Abzug gebracht. Er klagte daraufhin den abgezogenen Betrag unter Bezugnahme auf den Entgeltanspruch nach § 1155 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) ein. Er sei nämlich stets arbeitsbereit und arbeitswillig gewesen, er habe die negativen Zeitsalden de facto nicht abbauen können, zumal Zusatzdienste extra verrechnet wurden.
Zu prüfen war, welcher Sphäre die Zeitschulden zuzurechnen waren. Der OGH führte aus, dass Ereignisse und Umstände, welche beispielsweise die Auftragslage bzw. Absatzlage, die Organisation und den Ablauf des Betriebes und die erforderlichen Arbeitskräfte betreffen, der Sphäre des Arbeitgebers zuzuordnen seien. Weiters zitierte er Literaturmeinungen betreffend Zeitschulden, wonach diese dem Arbeitgeber zuzurechnen seien, sofern sie auf eine im betrieblichen Interesse liegende Arbeitszeiteinteilung zurückgehen (z.B. Ausgabe von Dienstplänen) oder weniger Dienste aufgrund schlechter Auslastung wegen schwacher Auftragslage zugeteilt werden. Andererseits seien Zeitschulden, die aufgrund einer eigenbestimmten Zeiteinteilung im Rahmen eines Gleitzeitmodells entstanden sind, sind in der Regel der Sphäre des Arbeitnehmers zuzurechnen.
Im Anlassfall rechnete der OGH die Zeitschulden jedoch der Arbeitgeberin zu. Die Dispositionsmöglichkeit des Klägers hinsichtlich seines tatsächlichen Dienstbeginns beschränkte sich auf eine halbe Stunde. Das Ende der Arbeitszeit trat durch die vollständige Erfüllung der zugeordneten Aufgaben ein. Damit war die Dauer der Arbeitsleistung zwar nicht zeitlich, aber durch die Übertragung der Aufträge von der Arbeitgeberin vorgegeben und vom Kläger nicht beeinflussbar. Zudem könne es dem Kläger nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er seine Aufgaben schneller erledigte als die anderen, zumal auch nicht behauptet wurde, er habe seine Aufgaben nicht ordnungsgemäß ausgeführt. Weiters wurden ihm keine anderen Aufgaben übertragen oder ein Absitzen der Arbeitszeit verlangt. Für den Arbeitnehmer war es daher nach der Entscheidung des OGH unmöglich, die Minusstunden abzuarbeiten. Die Zeitschulden seien daher nicht auf eine allfällige unzureichende Zeiteinteilung des Klägers zurückzuführen und damit der Sphäre der Arbeitgeberin zuzuordnen.
Zuletzt führte der OGH noch aus, dass die Regelungen des § 1155 ABGB dispositiv seien und ein Abbedingen desselben am Sittenwidrigkeitskorrektiv des § 879 ABGB zu messen sei. Sittenwidrig wäre ein Abbedingen jedenfalls, wenn eine Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen oder bei Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den verletzten und geförderten Interessen ergibt. Im Anlassfall wäre es allerdings aufgrund des unmöglich gemachten Abbaus der Minusstunden jedenfalls unzulässig gewesen, den mit § 1155 ABGB einhergehenden Entgeltanspruch abzubedingen.
Für die Praxis macht diese aktuelle Entscheidung erneut deutlich, dass Gleitzeitmodelle nur für die Flexibilisierung der Arbeitszeit von Arbeitnehmer*innen eingesetzt werden können, deren Tätigkeit es zulässt, dass sie, über den Beginn, Pausen und Ende der täglichen Arbeitszeit selbst bestimmen und sich dies nicht vielmehr aus der Zuweisung von Arbeitsaufträgen ergibt. Gleitzeitmodelle sind kein Mittel für Arbeitgeber*innen, um die Arbeitszeiten flexibler zu gestalten, um beispielsweise für Fälle schwacher Auftragslage gerüstet zu sein. Das damit einhergehende wirtschaftliche Risiko der Arbeitgeber*innen kann nicht durch die Nutzung eines Gleitzeitmodells auf die Arbeitnehmer*innen überwälzt werden.
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