Das Amazon-Verfahren der Europäischen Kommission – wird Alexa nun verstummen?
Seit Juli 2019 ermittelt die Europäische Kommission gegen Amazon. Erst kürzlich hat die europäische Wettbewerbsbehörde ihre Beschwerdepunkte an Amazon übermittelt. Ihrer Ansicht nach könnte das Unternehmen gegen EU-Kartellrecht verstoßen. Doch was bedeutet dies nun eigentlich für das Unternehmen und seine Kunden?
Nationale und internationale Medien berichteten in den vergangenen Wochen, dass Amazon Kartellrechtsverstöße angelastet werden:
Amazon ist nicht nur als Plattform für Händler als "Amazon Marketplace" tätig, sondern vertreibt auch eigene Produkte verschiedenster Kategorien wie Elektrogeräte und Büroartikel. Somit tritt Amazon unter Umständen in den direkten Wettbewerb mit seinen unabhängigen Händlern. Nun wird Amazon sogenanntes "self-preferencing" vorgeworfen:
Der Beschwerdepunkt der Kommission betrifft die Praktiken des Unternehmens, nicht-öffentliche Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern, die ihre Produkte über den Marketplace vertreiben, zu nutzen, um eigene Produkte besser verkaufen zu können.
Daneben hat die Kommission ein zweites Kartellverfahren eingeleitet, das untersuchen soll, ob Amazon eigene Angebote und Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, bevorzugt behandelt.
Laut der vorläufigen Auffassung der Kommission könnte das Unternehmen gegen Art 102 AEUV verstoßen. Demnach darf ein Unternehmen, das eine beherrschende Stellung auf seinem Markt hat, ebendiese Stellung nicht missbräuchlich ausnutzen.
Kritische Stimmen aus der Kartellrechts-Community
Obwohl die Pressemitteilung der Kommission den gegenständlichen Sachverhalt nur oberflächlich beschreibt, werden in der Kartellrechts-Community schon die ersten Zweifel geäußert, dass hier ein wettbewerbswidriges Verhalten durch Amazon vorliegt.
Bemängelt wird vor allem der Vorwurf der Kommission, dass Amazon Daten nutzt, die durch andere Unternehmer gesammelt wurden, um sich einen wettbewerblichen Vorteil zu verschaffen.
Diesem Vorwurf wird entgegengehalten, dass jedes Unternehmen am Markt versucht seine Vorteile auszunutzen und ein solcher wettbewerblicher Vorteil nicht mit einem wettbewerbswidrigen Handeln gleichzusetzen ist.
Zudem wird bezweifelt, dass Amazon überhaupt Marktbeherrscher ist, da aus Untersuchungen des französischen und deutschen Onlinehandels gegenteilige Indizien zu finden sind.
Eine abschließende Beurteilung zu treffen, ob die Kommission schlussendlich zu dem Ergebnis kommen wird, dass Amazon wettbewerbswidrig gehandelt hat, ist wohl mit dem derzeitigen öffentlichen Wissenstand nicht möglich.
Handlungsmöglichkeiten der Kommission
Aber was könnte die Kommission nun überhaupt in diesem Fall gegen das Verhalten des Unternehmens tun? Werden nun unsere Kindles gesperrt, unsere Lieblingsserie von Amazon Prime genommen und Alexa für immer verstummen?
Die kurze Antwort ist: Nein.
Die Kommission ist gemäß Art 2 Abs 1 VO 773/2004 berechtigt, ein Verfahren gegen Unternehmen zu eröffnen, wenn sie dies zum Schutze des europäischen Wettbewerbs für notwendig erachtet. Dies kann entweder auf Basis einer Beschwerde geschehen oder ex officio − durch die Initiative der Kommission selbst.
Sofern sich im Rahmen (eingehender) Untersuchungen nach Meinung der Kommission der jeweilige Verdacht erhärtet hat, übersendet sie dem betreffenden Unternehmen eine Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte, wie es eben letzte Woche gegenüber Amazon geschehen ist.
Einigung auf Verpflichtungszusagen mit der Kommission
An diesem Punkt des Verfahrens entscheidet sich, ob eine Einigung mit der Kommission möglich ist. Das Unternehmen kann unter Umständen eine nachteilige Entscheidung der Kommission dadurch abwenden, dass es Verpflichtungszusagen nach Artikel 9 VO 1/2003 abgibt, die die Bedenken der Kommissionausräumen.
60% aller Fälle der Kommission, die nicht Kartelle zwischen Unternehmen betreffen, werden mit solchen Verpflichtungszusagen gelöst (manche Quellen sprechen sogar von 90% ).
Was der Inhalt und der Umfang solcher Verpflichtungszusagen ist, kommt auf den Einzelfall an: Sehr spezielle – um nicht zu sagen eingeschränkte – Verpflichtungszusagen wurden beispielweise im Gazprom-Fall getroffen:
Dem Erdgaslieferanten wurde in diesem Verfahren vorgeworfen, seine marktbeherrschende Stellung insoweit zu missbrauchen, als dass es eine Strategie zur Abschottung der Gasmärkte von acht Mitgliedstaaten verfolge, um dort überhöhte Gaspreise einzufordern. In den Verpflichtungszusagen wurde unter anderem ein strukturelles Verfahren festgesetzt, mit dem sichergestellt werden sollte, dass die Kunden von Gazprom wettbewerbstaugliche Preise erhalten und dem Unternehmen des Weiteren untersagt, in Zukunft durch seine Kundenverträge Hindernisse für die freie Lieferung von Erdgas zu schaffen. Dieser Fall zeigt, dass durch Verpflichtungszusagen das wettbewerbsrechtliche Problem treffgenau anvisiert werden kann, wobei das Unternehmen das Endergebnis mitverhandelt.
Feststellung keiner oder einer Zuwiderhandlung und Abhilfemaßnahmen
Kann oder will sich das Unternehmen nicht mit der Kommission einigen, stehen der Wettbewerbsbehörde weitere Möglichkeiten offen:
Einerseits gibt es immer noch die Möglichkeit, dass sie im Zuge des weiteren Verfahrens und der eingehenden Prüfung des Falls zum Schluss kommt, dass keine wettbewerbswidrige Handlung vorliegt und dies in einer Entscheidung gemäß Art 10 VO 1/2003 feststellt.
Wenn die Kommission jedoch zu dem Schluss kommt, dass ein Verstoß gegen EU-Kartellrecht vorliegt, wird sie gemäß Art 7 VO 1/2003 eine Zuwiderhandlung feststellen und deren Abstellung anordnen. Dabei kann sie spezifische Abhilfemaßnahmen vorschreiben, die zur Abstellung der Zuwiderhandlung dienen. Beispielsweise trug sie im Motorola-Fall dem Unternehmen auf, gewisse Teile einer Lizenzvereinbarung zu beenden. Meist gibt die Kommission jedoch kein konkretes Verhalten vor, sondern Rahmenvorgaben oder fordert sogar das Unternehmen auf, selbst Vorschläge für geeignete Maßnahmen zu machen. Wichtig ist dabei, dass sich die Entscheidung der Kommission nur auf das untersuchte Verhalten des Unternehmens bezieht.
Alexa darf leben
Im Hinblick auf das Amazon-Verfahren bedeutet dies, dass Amazon nun wohl abzuwägen hat, ob man mit der Kommission das Gespräch suchen sollte, um Verpflichtungszusagen zu erörtern. Sollte dies nicht gewünscht oder nicht erfolgreich sein und die Kommission zu dem Schluss kommen, dass die Praktiken von Amazon gegen EU-Kartellrecht verstoßen, wird sie dies in einer Entscheidung feststellen und anordnen, die gegenständlichen Verhaltensweisen abzustellen. Dies würde sich aber in diesem Verfahren nur auf den aktuellen Beschwerdepunkt – die Nutzung der Händlerdaten für eigene Zwecke – beziehen.
Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich das Verfahren vor der Kommission entwickeln wird. Wie die Statistiken zeigen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich Amazon mit der Kommission auf Verpflichtungszusagen einigt. Die liebgewonnene "Alexa" des Durchschnittsverbrauchers wird wohl nicht darunter leiden müssen.
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