Zwei neue Grundsatzentscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs als Kartellobergericht zur Fusionskontrolle
1. Transaktionswertschwelle
Der österreichische Oberste Gerichtshof als Kartellobergericht (KOG) hat sich in einer Grundsatzentscheidung (16Ok2/25t) mit Fragen rund um die Anwendung der Transaktionswertschwelle auseinandergesetzt. Anlass war ein Rekurs der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) und des Bundeskartellanwalts (BKartAnw) gegen die Zurückweisung eines Phase-II-Antrags durch das österreichische Kartellgericht (KG) iZm dem angemeldeten Zusammenschlussvorhaben der Übernahme von JenaValve Technology, Inc. („JenaValve“ oder „Zielunternehmen“) durch Edwards Lifesciences Corp. Die fusionskontrollrechtliche Anmeldepflicht des Vorhabens in Österreich war aufgrund der geringen Umsätze und Präsenz des Zielunternehmen in Österreich unklar. Im Jahr 2023 belief sich der weltweite Umsatz des Zielunternehmens auf ca. EUR 19 Mio., wovon nur EUR 57.000 (ca. EUR 95.000 im Jahr 2024) in Österreich erwirtschaftet wurden. Das Zielunternehmen hatte in Österreich bisher nur acht seiner Produkte an einen einzigen Kunden verkauft.
Das KOG bestätigte das Nichtvorliegen der Anmeldepflicht des Zusammenschlusses in Österreich und konkretisierte wichtige Aspekte hinsichtlich des Kriteriums der erheblichen Inlandstätigkeit des Zielunternehmens:
- Breiter Anwendungsbereich (nicht nur digitale Wirtschaft): Ungeachtet der Fokussierung auf die digitale Wirtschaft gilt die Transaktionswertschwelle für alle Sektoren und damit auch im vorliegenden Fall.
- Leicht anzuwendende Regelung (dh kein Marktanteilstest): Die klare Absicht des österreichischen Gesetzgebers war es, eine iS der Rechtssicherheit leicht handhabbare Regelung zu schaffen. Der Marktanteil des Zielunternehmens sei dagegen kein solch leicht handhabbarer Indikator, da die dafür notwendige vorherige Marktabgrenzung eine zu komplexe Vorfrage wäre. Damit hat das KOG einen früheren Präzedenzfall des KG (27 Kt 9/21g - Salesforce / Tableau) und auch die darauf Bezug nehmenden aktuellen Leitlinien der BWB zur Transaktionswertschwelle in diesem Punkt revidiert.
- Die „erhebliche Inlandstätigkeit“ erfordert aktuell existierende Aktivitäten des Zielunternehmens: Aus einer bloß bestehenden EU-Marktzulassung für ein Produkt, der Registrierung eines Patents oder der Marktreife eines noch im Entwicklungsstadium befindlichen Produkts („Pipeline-Produkt“) ist nach Ansicht des KOG keine entsprechende an Kunden in Österreich gerichtete Inlandstätigkeit des Zielunternehmens abzuleiten. Die Frage, ob etwaige im Inland vorgenommene Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten eine derartige Zuordnung zu (potentiellen) inländischen Kunden ermöglichen und daher einen ausreichenden Inlandsbezug herstellen könnten, wurde im vorliegenden Fall nicht weiter untersucht, da solche Tätigkeiten unstrittig nicht von dem Zielunternehmen in Österreich ausgeübt wurden.
- Der Test der Erheblichkeit der Inlandstätigkeiten muss nicht umsatzbezogen sein, aber die bloße Werbung in Österreich ist wahrscheinlich nicht ausreichend: Die Inlandstätigkeit des Zielunternehmens muss nicht umsatzbezogen sein, um das Kriterium der erheblichen inländischen Aktivitäten zu erfüllen, und könnte daher grundsätzlich auch durch bloße Marketingkampagnen erfüllt werden, die sich an österreichische Kunden richten. Nach Auffassung des KOG werden bloße Werbemaßnahmen jedoch in der Regel die Erheblichkeitsschwelle nicht erreichen. Sofern die Erheblichkeit der inländischen Tätigkeiten nicht durch andere Maßzahlen hinreichend etabliert werden kann, ist sie nach der bisherigen Lehre regelmäßig zu verneinen, wenn der österreichische Umsatz des Zielunternehmens unter EUR 1 Mio. liegt. Leider hat das KOG in seiner Entscheidung solche alternativen (nicht umsatzbezogenen) Maßzahlen nicht weiter spezifiziert.
- (Geplante) Durchführung des Zusammenschlusses als maßgeblicher Zeitpunkt: Dem KOG zufolge ist die Erheblichkeit der Inlandstätigkeit des Zielunternehmens zum Zeitpunkt der (geplanten) Durchführung des Zusammenschlusses zu beurteilen. Mögliche oder sogar geplante zukünftige Aktivitäten des Zielunternehmens (in den Folgejahren, zB im Zusammenhang mit Pipeline-Produkten) sind bei einer solchen Analyse nicht zu berücksichtigen.
Gestützt auf die obigen Begründungen kam das KOG daher zu dem Schluss, dass das Zielunternehmen in Österreich nicht im erheblichen Umfang tätig war und verneinte damit das Vorliegen eines anmeldepflichtigen Zusammenschlusses in Österreich. Die Entscheidung des KOG finden Sie hier, die Pressemeldung der BWB finden Sie hier.
Die Entscheidung des KOG steht in gewissem Maße im Widerspruch zu den Leitlinien der BWB zur Transaktionswertschwelle, die in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des KG aus dem Jahr 2021 besagen, dass ein Marktanteil von mehr als 10% des Zielunternehmens auf einem „wettbewerblich relevanten Segment in Österreich“ (Formulierung nach den aktuellen Leitlinien) als erhebliche Inlandstätigkeit zu qualifizieren ist. Daher wird die vorliegende Entscheidung wahrscheinlich eine zukünftige Anpassung der Leitlinien erfordern.
Zuletzt gab es auch in Deutschland weitere bemerkenswerte Entwicklungen zum Anwendungsbereich der Transaktionswertschwelle: Zum gleichen Zusammenschlussvorhaben teilte das Bundeskartellamt in einer Pressemitteilung vom Februar 2025 ebenfalls mit, dass es das Verfahren eingestellt habe, weil die Transaktionswertschwelle mangels erheblicher Tätigkeit des Zielunternehmens in Deutschland nicht anwendbar sei.1
Darüber hinaus verneinte das OLG Düsseldorf eine fusionskontrollrechtliche Anmeldepflicht für den vorangegangenen Erwerb von zwei Unternehmen im B2B-Marketingbereich durch Adobe im Jahr 2018 und schloss sowohl die allgemeinen fusionskontrollrechtlichen Anmeldekriterien als auch eine hinreichende Inlandstätigkeit des Zielunternehmens nach der Transaktionswertschwelle aus.2 Der Fall ist derzeit vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe anhängig.
2. Rekordstrafe von EUR 70 Millionen wegen Gun Jumping verhängt
Die Sanktionierung von Gun Jumping in Österreich hat ein beispielloses Ausmaß erreicht: In einer überraschenden Grundsatzentscheidung (16Ok5/24g) hat der österreichische Oberste Gerichtshof (OGH) in seiner Funktion als Kartellobergericht (KOG) in einem Rekursverfahren die vom Oberlandesgericht Wien (OLG Wien) in seiner Funktion als Kartellgericht (KG) (nach Rekurs gegen die erste Entscheidung des KG, keine Geldbuße zu verhängen) festgesetzte Geldbuße in Höhe von EUR 1,5 Mio. im zweiten Rekursverfahren auf EUR 70 Mio. erhöht – eine fast 47-fache (!) Anhebung, die eine deutliche Verschärfung der Geldbußenpraxis für Kartellrechtsverstöße in Österreich bedeutet.
- Das konkrete Zusammenschlussvorhaben: In dieser Grundsatzentscheidung wurde die Geldbuße vom KOG gegen REWE wegen vorzeitiger Durchführung eines Zusammenschlusses ohne vorherige Freigabe durch die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) verhängt. Das Vorhaben, bei dem es sich um eine langfristige Verpachtung einer Lebensmitteleinzelhandelsfläche in einem Einkaufszentrum handelte, galt nach dem österreichischen Fusionskontrollregime als anmeldepflichtig, war aber alles andere als ein klassischer Zusammenschluss. Die von REWE angemietete Fläche wurde (gemeinsam mit dem Einkaufszentrum) neu saniert und war in dieser Zeit fast ein Jahr lang geschlossen, bevor REWE den Betrieb aufnahm. Verpächter an REWE war der Immobilienentwickler, der das gesamte Einkaufszentrum gekauft hatte und damit gar nicht im Lebensmitteleinzelhandel tätig war. Nach Auffassung der BWB war die Aufnahme der Geschäftstätigkeit durch REWE jedoch als Übertragung eines Unternehmens (oder zumindest eines relevanten Teils davon) anzusehen, da die Fläche von einem Dritten als Lebensmitteleinzelhandelsgeschäft betrieben worden war, bevor das Einkaufszentrum an den Immobilienentwickler verkauft wurde, der die ehemalige und künftige Einzelhandelsfläche dann an REWE verpachtete. Es wurde argumentiert, dass die Marktposition, der Goodwill und der Kundenstamm trotz der Unterbrechung auf REWE übertragen worden seien, zumal die Bewilligung zur Errichtung von Einkaufszentren schwer zu erlangen und damit als knappes Gut anzusehen war. Sowohl das KG als auch das KOG folgten der Auffassung der BWB und sahen einen Zusammenschlusstatbestand verwirklicht. Die Transaktion wurde von REWE daher rückwirkend angemeldet und nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen 4-wöchigen Phase-1 Prüffrist ohne Auflagen freigegeben, da die Übernahme der Fläche durch REWE keinerlei Beeinträchtigung des Wettbewerbs auf dem relevanten lokalen Markt zur Folge hatte.
- Berechnung der Geldbuße: Obwohl die Milderungsgründe – darunter kein vorsätzliches Fehlverhalten, keine Bereicherung, keine Beeinträchtigung des Wettbewerbs und Kooperation mit der BWB – die Erschwerungsgründe im konkreten Fall sogar überwogen, hob das KOG im Rekursverfahren die ursprüngliche Entscheidung des KG, keine Geldbuße zu verhängen, auf und wies das KG an, eine Geldbuße in einer Höhe zu verhängen, die eine hinreichende abschreckende Wirkung entfalten sollte. Das KG bemühte sich, dieser Aufforderung nachzukommen und verhängte gegen REWE eine Geldbuße in Höhe von EUR 1,5 Mio. Die BWB war jedoch immer noch nicht zufrieden und erhob abermals Rekurs gegen die neue KG-Entscheidung. Das KOG erhöhte daraufhin die Geldbuße auf atemberaubende EUR 70 Mio., im Wesentlichen basierend auf dem weltweiten Umsatz des REWE-Konzerns von EUR 92,3 Mrd., obwohl sich die Transaktion nur auf einen lokalen Markt bezog und keinerlei negative Auswirkungen auf den Wettbewerb hatte. Ein atemberaubender Betrag insbesondere wenn man bedenkt, dass sich der vom Voreigentümer vor der fast einjährigen Schließung des Supermarkts generierte Gesamtjahresumsatz – wohlgemerkt nicht Gewinn! – auf knapp über EUR 5 Mio. belaufen hatte. Das KOG betonte in seiner Entscheidung die Notwendigkeit einer gewissen Strafhöhe, um eine hinreichend abschreckende Wirkung zu erzielen, sowie das Erfordernis, Geldbußen für Zuwiderhandlungen gegen das Kartellrecht in Österreich auf ein Level zu erhöhen, das der bereits seit langem gelebten Praxis auf EU-Ebene sowie in anderen EU-Mitgliedstaaten entspricht. Diese Argumentation wurde allerdings nicht durch Beispiele untermauert, was nicht zu überraschen vermag, da es eine solche Praxis schlicht und einfach nicht gibt. Ganz im Gegenteil, die Geldbußen für Gun Jumping in anderen EU-Mitgliedstaaten sind – wenn überhaupt welche verhängt wurden – vergleichsweise niedrig und überschreiten die Schwelle von EUR 1 Mio. bisher nur sehr selten. Auf EU-Ebene sind die wenigen Beispiele für Geldbußen in ähnlicher Höhe aus verschiedenen Gründen in keiner Weise vergleichbar (materielle Auswirkungen der Transkation in der gesamten EU, vorsätzliche Verstöße in klaren Fällen von Gun Jumping usw.).
- Klarer Trend zu höheren Geldbußen: Die Entscheidung des KOG folgt einem Trend zur strengeren Ahndung von Kartellrechtsverstößen und stellt die bisherige Geldbußenpraxis auf den Kopf. Dieser Trend zeigte sich bereits in der kurz vor REWE ergangenen Entscheidung Hygiene Austria, wo das KOG die vom KG verhängte Geldbuße wegen Gun Jumping drastisch von EUR 5.000 Euro auf EUR 100.000, also das 20-Fache anhob. Ähnlich wie bei REWE rechtfertigte der konkrete Sachverhalt in diesem Fall keine drastische Änderung der etablierten österreichischen Geldbußenpraxis, die – nicht zu vergessen – über viele Jahre vom KOG selbst entwickelt worden war (Zuwiderhandlungszeitraum von nur wenigen Wochen, Verstoß durch verfrühten Produktionsbeginn dringend benötigter Gesichtsmasken im Zuge der COVID-19-Pandemie, der für alle Beteiligten ersten jemals erlebten Pandemie und damit wohl mehr als außergewöhnliche Umstände).
- Auswirkungen auf die Fusionskontrolle und das Settlement-Verfahren der BWB: Die REWE-Entscheidung ist ein starkes Signal an das KG und insbesondere an die BWB. Bisher wurden die meisten Fälle gesettelt und die Geldbußen entsprechend – in der Regel zwischen EUR 50.000 und EUR 150.000 – zwischen der BWB und den beteiligten Unternehmen vereinbart. Da das KG keine höheren Bußgelder verhängen kann, als von der BWB beantragt, bestimmen die Amtsparteien in einem Settlement-Verfahren de facto die Höhe der Geldbuße. Aufgrund der Tatsache, dass ein Settlement in den meist eindeutigen Gun-Jumping-Szenarien nur einen begrenzten Mehrwert für die BWB darstellt, ist damit zu rechnen, dass sich die Geldbußenpraxis in Fällen von Gun Jumping aufgrund der starken Verhandlungsmacht der BWB nach der REWE-Entscheidung dramatisch ändern wird. Es ist schwer vorstellbar, dass Unternehmen bereit sein werden, das Risiko einzugehen und einem Settlement mit der BWB nicht zuzustimmen.
- Meinung und Kritik: Die Entscheidung des KOG hat zu Recht scharfe Kritik hervorgerufen. Rechtsexperten haben auf die mangelnde Transparenz bei der Geldbußenbemessung, das vorrangige Abstellen auf Konzernumsätze statt auf das spezifische (Fehl-)Verhalten im konkreten Fall sowie die offensichtliche Unvorhersehbarkeit und Unsicherheit insbesondere für große Unternehmen mit hohem Konzernumsatz hingewiesen – die potenzielle Geldbuße von REWE lag zwischen null und EUR 9,23 Mrd. (!), was auch Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Bestimmung des österreichischen Kartellgesetzes aufwirft.
- Die wichtigsten Erkenntnisse: Unternehmen, die an M&A-Transaktionen beteiligt sind – insbesondere größere, global tätige Unternehmen mit hohem weltweiten Umsatz – drohen in Österreich auch bei nur leicht fahrlässigem Verhalten hohe Geldbußen selbst in Fällen, in denen die geplante Transaktion keinerlei Auswirkungen auf den Wettbewerb haben kann. Daher ist es bei auch nur minimalem Zweifel zu empfehlen, entweder vorsichtshalber anzumelden oder die BWB zur Frage der Anmeldepflicht zu konsultieren und deren Position auch bei strittigen Sachverhalten nicht in Frage zu stellen, um böse Überraschungen zu vermeiden – unserer Meinung nach ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis!
Weitere Details und eine kritische Analyse der REWE-Entscheidung finden Sie in unserem Blogbeitrag auf Antitrustpolitics.com und in unserem Artikel in der Juni-Ausgabe der NZKart.
1 In ähnlichen Fällen kam das Bundeskartellamt im Jahr 2024 zu den gleichen Ergebnissen: Sowohl die Kooperation zwischen Microsoft und OpenAI (B6 – 34/23) als auch die Microsoft/Inflection-Transaktion waren mangels erheblicher Tätigkeiten der jeweiligen Zielunternehmen in Deutschland nach deutschem Fusionskontrollrecht nicht anmeldepflichtig.
2 Siehe Pressemitteilung https://www.justiz.nrw/presse/2025-02-26-2.
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