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Ex-post-Missbrauchskontrolle von Zusammenschlüssen? – Ein Spagat zwischen Wettbewerbsschutz und Rechtssicherheit
Im Jahre 1973 – lange vor Einführung der Fusionskontrollverordnung (FKVO) am 20.01.2004 – entschied der EuGH in der Rechtssache Continental Can über die Anwendbarkeit des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung auf einen Zusammenschluss. Darin vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Ex-post-Kontrolle des Marktmissbrauchsverbots nach einem nicht schon ex-ante geprüften Zusammenschluss notwendig war, um den Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu einer Zeit zu gewährleisten, in der es noch keine EU-Fusionskontrollvorschriften gab. Diese seither unangewendet gebliebene Rechtsprechung rückt nun durch die Schlussanträge der Generalanwältin (GA) Juliane Kokott in der Rechtssache Towercast wieder in das Licht der wettbewerbsrechtlichen Diskussion.
A. Anlassfall Rs Towercast (C-449/21)
Auf dem französischen Markt für Fernsehübertragungen waren neben Television de France (TDF) nur noch zwei weitere Gesellschaften tätig, Itas und Towercast. TDF, welche die mit Abstand größten Marktanteile besaß, übernahm die Kontrolle an Itas im Oktober 2016. Bei diesem Zusammenschluss wurden sowohl die nationalen wie auch die europäischen Umsatzschwellen der FKVO nichterreicht, weshalb weder die französische Wettbewerbsbehörde noch die Europäische Kommission den Fall aufgriffen.
Towercast – als nun einzig verbleibender Konkurrent von TDF – sah in der Übernahme einen Verstoß gegen das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung iSd Art 102 AEUV durch TDF und wandte sich an die französische Wettbewerbsbehörde. Die Wettbewerbsbehörde wies die Beschwerde von Towercast mit der Begründung zurück, dass TDF zwar eine marktbeherrschende Stellung innehabe, doch die FKVO eine Anwendung des Missbrauchsverbots auf den Zusammenschluss selbst ausschließe. Für die Anwendbarkeit des Art 102 AEUV bräuchte es ein vom Zusammenschluss losgelöstes (missbräuchliches) Verhalten seitens TDF.
Im Rechtsmittelverfahren stellte nun das französische Berufungsgericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zum Verhältnis zwischen den Regeln der Ex-ante-Fusionskontrolle und der Ex-post-Missbrauchskontrolle nach Art 102 AEUV. Gefragt wurde demnach, ob es einer nationalen Wettbewerbsbehörde möglich sei, einen Zusammenschluss, der von einem Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung betrieben wurde, nachträglich am primärrechtlichen Maßstab des Art 102 AEUV zu prüfen, wenn dieser Zusammenschluss die maßgeblichen umsatzbezogenen Aufgreifschwellenwerte der FKVO und des nationalen Fusionskontrollrechts nicht erreicht und daher keine entsprechende Ex-ante-Prüfung stattgefunden hat.
Im Kern zielte die Vorlagefrage auf die Auslegung von Art 21 FKVO ab, der die Anwendung der FKVO im Zusammenspiel mit anderen (sekundärrechtlichen) europäischen Rechtsakten regelt. Hierfür galt es zu klären, ob Art 21 Abs 1 FKVO bewirkt, dass Zusammenschlüsse ausschließlich im Regime des Fusionskontrollrechts zu prüfen sind und eine parallele oder nachträgliche Anwendung von Art 102 AEUV ausgeschlossen ist (sog „Sperrwirkung“).
B. Bisherige Praxis
Das System der Kontrolle von Zusammenschlüssen basiert auf dem Ex-ante-Grundsatz, nachdem Unternehmen anmeldebedürftige Zusammenschlussvorhaben bevor der Durchführung bei einer oder mehreren Wettbewerbsbehörden anzumelden haben. Ob ein Zusammenschluss anmeldepflichtig ist, gründet sich in den vorgeschriebenen Umsatzschwellen der FKVO und den jeweiligen nationalen Regelungen. Eine Ex-ante-Kontrolle ermöglicht den Wettbewerbsbehörden, die mögliche wettbewerbsbeschränkenden Wirkung zu prüfen und wenn eine solche vorliegt, den Zusammenschluss zu untersagen. Sehen die Wettbewerbsbehörden keine Gefahr für den Wettbewerb, wird der Zusammenschluss genehmigt, was zu einer relativen Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen führt.
Die Rechtsprechung und Lehre unterscheiden streng zwischen dieser Ex-ante-Marktstrukturkontrolle und der Ex-post-Verhaltenskontrolle in Art 101 und 102 AEUV. Nach der bisherigen Rechtspraxis schließt die FKVO eine nachträgliche Prüfung von Zusammenschlüssen über die Verhaltenskontrolle aus. Für diese Ansicht werden unter anderem (i) der Wortlaut des Art 21 Abs 1 FKVO, wie auch (ii) der Selbstständigkeitscharakter der FKVO selbst, welcher aus den Erwägungsgründen hervorgeht und mit (iii) dem Grundsatz lex specialis degorat legi generali, wonach die speziellere Norm der allgemeineren Norm vorgeht, ins Treffen geführt
C. Standpunkte von GA Kokott
1. Normenhierarchie und unmittelbare Anwendbarkeit
Aus dem Grundsatz der Normenhierarchie könne nach Kokott Art 102 AEUV in ihren nunmehr in der Rs Towercast vorliegenden Schlussanträgen als eine unmittelbar anwendbare Primärrechtsnorm nicht durch die FKVO als Sekundärrechtsnorm ausgeschlossen werden. Weiters sei der aus der normenhierarchischen Stellung abgeleitete kollisionsrechtliche Grundsatz lex superior derogat legi inferiori zu beachten, wonach eine europarechtliche Norm des Sekundärrechts weder den Anwendungsbereich noch die unmittelbareAnwendbarkeit einer Norm des Primärrechts einzuschränken vermag. Art 21 Abs 1 FKVO, der die ausschließliche Geltung der FKVO auf Zusammenschlüsse anordnet, müsse daher iSd Art 102 AEUV ausgelegt werden. Eine andere Auslegung würde der Funktionsweise und der Systematik des unionsrechtlichen Wettbewerbsschutzes widersprechen. Folglich könne sich auch keine Sperrwirkung der FKVO hinsichtlich Art 102 AEUV ableiten lassen.
Art 21 Abs 1 FKVO könne zwar die Geltung der VO 1/2003 ausschließen, die ua der Durchführung des Art 102 AEUV dient, nicht aber das Missbrauchsverbot des Art 102 AEUV oder dessen Durchsetzung, da es hinreichend klar und präzise formuliert ist, sodass es keiner sekundärrechtlichen Regelung bedarf.
Es wäre dem Gesetzgeber rechtlich schlicht nicht möglich gewesen, eine sekundärrechtliche Regel zu erlassen, die die Anwendung des höherrangigen und unmittelbar anwendbaren Art 102 AEUV auslösche.
2. (Ir)Relevanz der Schwellenwerte
Die Umsatzschwellenwerte der FKVO regeln die Verteilung der Zuständigkeit zwischen der EU Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden und bestimmen das auf die Prüfung des Zusammenschlusses anwendbare Recht. Dahinterstehend ist die Wertung des Gesetzgebers und die damit verbundene widerlegbare Vermutung, dass die Schwellen überschreitende Zusammenschlüsse besonders bedeutsam wären und schädliche Auswirkungen auf die Marktstruktur haben könnten, weshalb eine Ex-ante-Kontrolle erfolgen soll. Die Schwellenwerte als solche sagen nach Kokott jedoch nichts darüber aus, ob in bestimmten Fällen eine Ex‑post-Kontrolle des Verhaltens von Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung im Zusammenhang mit einem Zusammenschluss aufgrund von Art 102 AEUV möglich ist.
3. Keine Doppelprüfung eines Zusammenschlusses
Zu einer Prüfung nach dem Missbrauchsverbot gemäß Art 102 AEUV eines zuvor nach der FKVO genehmigten Zusammenschlusses soll es auch nach Ansicht von GA Kokott weiterhin nicht kommen. Hier greift der Grundsatz, dass speziellere Regelungen generelleren vorgehen – lex specialis degorat legi generali. Die Wettbewerbsbehörden können dahingehend einen Zusammenschluss nur dann angesichts eines Marktmissbrauchs aufgreifen, wenn zuvor – aufgrund nicht die Schwellen überschreitender Umsätze der beteiligten Unternehmen – keine fusionskontrollrechtliche Prüfung stattgefunden hat. Es kommt also zu keiner Doppelprüfung angemeldeter und genehmigter Zusammenschlüsse.
Außerdem führte GA Kokott aus, dass – entgegen der Meinung der französischen Wettbewerbsbehörde – die FKVO auch keinen abschließenden lex specialis-Charakter habe. Art 21 Abs 1 FKVO sei lediglich zu entnehmen, dass die Prüfung von wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen eines Zusammenschlusses vorrangig dem Fusionskontrollrecht unterliegt. Die Möglichkeit einer Ex-post-Verhaltenskontrolle wäre dadurch jedoch nicht ausgeschlossen. Vielmehr wäre eine komplementäre Anwendung der Bestimmungen sogar geboten, schützen beide doch den Wettbewerb im Binnenmarkt. Würde die FKVO das Missbrauchsverbot gänzlich ausklammern, wäre ein lückenloser Schutz des Wettbewerbs nicht sichergestellt.
4. Verhältnis zu Art 22 FKVO
Die Generalanwältin verweist auch auf die Existenz wettbewerbsrechtlich problematischer Fusionen, die wegen Unterschreitung der Schwellen nicht geprüft werden konnten. Insbesondere würde das Fälle betreffen, in denen marktbeherrschende Unternehmen aufstrebende Wettbewerber übernehmen. Eine stärkere Marktkonzentration sowie eine erhöhte Konsolidierung der Marktstellung des marktbeherrschenden Unternehmens wären die Folge. Diese Lücke wurde jedoch bereits geschlossen: Im März 2021 gab die Kommission bekannt, Art 22 FKVO zur wettbewerbsrechtlichen Erfassung und Kontrolle sog „Killer Akquisitionen“ einsetzen zu wollen. Hierunter handelt es sich typischerweise um Übernahmen von innovativen, aufstrebenden, aber noch nicht umsatzstarken Start-Up-Unternehmen (meist im digitalen oder medizinischen Bereich) in ihrem frühen Entwicklungsstadium durch etablierte und marktmächtige Unternehmen auf demselben, benachbarten, vor- oder nachgelagerten Markt. Der Zweck solcher Akquisitionen ist, diese Start-Ups als Wettbewerber auszuschalten und die eigene Marktstellung zu verfestigen.
Gemäß Art 22 FKVO hat die Kommission die Möglichkeit, auf Antrag eines oder mehrerer Mitgliedstaaten jeden Zusammenschluss iSv Art 3 FKVO zu prüfen, der keine gemeinschaftsweite Bedeutung hat (dh die Umsatzschwellen nicht überschreitet), aber den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt und den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates zu beeinträchtigen droht. Die Kommission kann dann Mitgliedstaaten auffordern, einen Verweisungsantrag nach Art 22 FKVO zu stellen.
Mangels eines entsprechenden Antrags Frankreichs oder eines anderen Mitgliedstaats kam es im gegenständlichen Fall nicht zu einer Art 22 FKVO-Verweisung an die Kommission. Kokott äußerte sich dennoch zur Bedeutung dieser Bestimmung. Art 22 FKVO sei für die Auslegung des Verhältnisses zwischen Art 21 Abs 1 FKVO und Art 102 AEUV ohne Bedeutung und als Sekundärrecht keine Begründung für den Ausschluss des Art 102 AEUV.
Weitere Relevanz hat Art 22 FKVO auch iZm dem Digital Markets Act (DMA). Nach Art 14 DMA sind Gatekeeper verpflichtet, der Kommission Akquisitionen vorab zu melden. Der Regelungszweck ist eben die Regulierung von Killer Akquisitionen. Diese Meldepflicht hat unabhängig davon zu erfolgen, ob der Zusammenschluss bei den zuständigen nationalen Behörden oder der Kommission anmeldepflichtig ist. In Art 14 Abs 5 DMA wird direkt auf folgendes Vorgehen verwiesen, welches auch in der Bekanntmachung der Kommission zur Verweisungsregel des Art 22 FKVO beschrieben wird: Demnach informiert die Kommission die nationalen Behörden über die gemeldeten Zusammenschlusspläne (Art 14 Abs 4 DMA), um sodann von den nationalen Behörden nach Art 22 FKVO einen Antrag auf eine Verweisung zu erhalten. Dies ist erfolgte in der Rechtssache Illumina/Grail (T-227/21), wo die fusionsrechtlichen Schwellenwerte nicht erreicht wurden. Selbst schon vollzogene Transaktionen können unter Umständen von einem Mitgliedstaat nach Art 22 FKVO an die Kommission verwiesen und von dieser aufgegriffen werden.
D. Resümee
In der Rechtssache Continental Can wurde sinngemäß festgehalten, dass eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs durch ein nach Art 81 EG-Vertrag (nunmehr Art 101 AEUV) verbotenes Verhalten nicht durch einen Zusammenschluss der beteiligten (marktbeherrschenden) Unternehmen zulässig werden kann. Ein Marktmissbrauch kann demnach auch dann vorliegen, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen seine Position derart verstärkt, dass der erreichte Grad der Marktbeherrschung den Wettbewerb erheblich beeinträchtigt oder nur noch Unternehmen am Markt bleiben, die in ihrem Marktverhalten vom beherrschenden Unternehmen abhängen.
Diese Grundsätze gelte es jedoch der heutigen Rechtslage – insbesondere jener nach Einführung der FKVO – entsprechend zu präzisieren. Einerseits ist für GA Kokott Rechtssicherheit für Unternehmen nach Zusammenschlüssen essenziell. Handelt es sich aber um einen nicht-anmeldepflichtigen Zusammenschluss, wäre nicht auszuschließen, dass dieser nicht doch zu einem späteren Zeitpunkt von den Behörden aufgegriffen wird. Folglich kann nach Ansicht von GA Kokott ein Unternehmenszusammenschluss, der keiner fusionskontrollrechtlichen Vorabprüfung unterlag, nachträglich anhand des primärrechtlichen Verbots des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung überprüft werden.
Sollte diese Kontrolle zu dem Ergebnis kommen, dass ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung vorliegt, drohe – so GA Kokott – in der Regel keine nachträgliche Rückabwicklung des Zusammenschlusses, sondern nur die Verhängung einer Geldbuße. Dies ergebe sich aus dem Vorrang verhaltensorientierter Abhilfemaßnahmen vor denjenigen struktureller Art sowie aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Sollte diese Rechtsansicht durch den EuGH bestätigt werden, bedeutet dies für die Praxis, dass – zusätzlich zur durch die Anwendung des Art 22 FKVO entstehenden Rechtsunsicherheit – Unternehmen bei nicht genehmigungspflichtigen Transaktionen auch mit einem möglichen Verfahren wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung rechnen müssen. Die vertragliche Verteilung dieser Risiken wird wohl regelmäßig zulasten des schwächeren Vertragspartners ausfallen.
An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass die in diesem Beitrag behandelte Schlussanträge von GA Kokott den EuGH nicht bindet. Dieser hat die Urteilsveröffentlichung für den 16.03.2023 angekündigt. Es bleibt also mit Spannung abzuwarten, wie sich der Gerichtshof zu dieser Angelegenheit äußert.
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