Verfassungs- und Verwaltungsrecht im Krisen-Druck

In den letzten Wochen haben wir eine – seit Kriegszeiten – beispiellose Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte erlebt. Verfassungsjuristen können zwar auch strikte Verkehrs- beschränkungen (diesen Terminus haben wir zwischenzeitig gelernt) mit dem Gebot der Gefahrenabwehr akzeptieren. Das gilt aber nur im Grundsatz. In den Worten des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu einem Eilantrag:

Die hier geltend gemachten Interessen sind gewichtig, erscheinen aber nach dem hier anzulegenden strengen Maßstab nicht derart schwerwiegend, dass es unzumutbar erschiene, sie einstweilen zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Gesundheits- und Lebensschutz zu ermöglichen, zu dem der Staat aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG prinzipiellauch verpflichtet ist (vgl. BVerfGE 77, 170, <214>; 85, 191 <212>; 115, 25 <44 f.>). Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass die angegriffenen Regelungen von vornherein befristet sind, im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkungen zahlreiche Ausnahmen vorsehen und bei der Ahndung von Verstößen im Einzelfallim Rahmen des Ermessens individuellen Belangen von besonderem Gewicht Rechnung zu tragen ist.

Das Bundesverfassungsgericht spricht hier zur deutschen Rechtslage und im Eilverfahren. Dort ist die Eingriffsschwelle sehr hoch (die Folgen eines Gesetzes müssten in einem Maße untragbar sein, dass ausnahmsweise eine geltende Regelung im Eilrechtsschutz außer Vollzug gesetzt werden müsste). Also war relativ klar, dass es mit dem Eilantrag nichts werden wird. Bei einer Detailprüfung (im normalen Normprüfungsverfahren) sieht die Sache nicht mehr so einfach aus. Betroffen sind eine Vielzahl von Grundrechten (persönliche Freiheit, Freiheit der Erwerbsbetätigung, Eigentumsfreiheit, Gleichheitssatz, Versammlungsfreiheit, etc.). Dem gegenüber steht die Gefahr für Leib und Leben, welche ein sorgsamer Staat möglichst rasch beseitigen muss.

In dieser Situation kollidierender Grundrechtspositionen geht es – sagen wir es simpel – um eine Interessenabwägung und um Verhältnismäßigkeit. Diese Grundrechtsprüfung hängt aber naturgemäß auch davon ab, wie schwer man die Gefahren der COVID-19 Pandemie für Leib und Leben einschätzt. Nicht jedes Auftreten einer ansteckende Krankheit kann derartige massive Eingriffe rechtfertigen. Das ist klar – man müsste ja andernfalls alljährlich, in Influenza-Zeiten, den Staat, die Wirtschaft, das soziale Leben herunterfahren. Also brauchen wir eine Fachmeinung von Ärzten, Virologen, etc. Wenig verwunderlich gibt es bei der Einschätzung der Gefahren durch den Coronavirus keine einhellige Fachsicht, aber dem Staat wird auch nicht vorgeworfen werden können, wenn er vorsichtig bleibt. Im Rückblick war das Vorsichtsprinzip ja auch nicht schlecht. Und der asiatische Weg mag zwar bestechend effektiv erscheinen, ist aber mit unseren Rechtsprinzipien schwer in Einklang zu bringen. Zudem hatten wir wohl nicht die nötigen Testkapazitäten.

Selbst wenn man das große Bild im Prinzip gutheißen wollte, bleibt ein Störgefühl in der legislativen Umsetzung (Verordnungen auf Basis des Epidemiegesetzes, COVID-19 Gesetze samt Verordnungen, Erlässe). Ein Jurist hechelt dieser Tage und Wochen hinterher, um alle Rechtsentwicklungen zu verarbeiten, und reibt sich manchmal die Augen.

  • Können Entschädigungsansprüche nach dem Epidemiegesetz (§ 32) durch einen einfachen Rechtsakt (vielleicht auch noch rückwirkend) von einem Tag auf den anderen beseitigt werden, nur weil Betriebsschließungen /-beschränkungen plötzlich auf einer neu geschaffenen Rechtsgrundlage (COVID-19 Maßnahmengesetz) verordnet werden?
  • Deckt die gesetzliche Ermächtigung des Bundesministers Betretungsverbote für „bestimmte Orte“ vorzusehen, auch das ministerielle Betretungsverbot für den öffentlichen Raum in ganz Österreich? Und wie weit reichen die Ausnahmen vom Betretungsverbot? Selbst das Sozialministerium erlaubt ja eine Rückkehr zum Haupt- bzw. Nebenwohnsitz unter dem Titel der „Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“. Nachjustierungen wurden notwendig. Der „Oster“-Erlass musste zurückgenommen werden.
  • Die Maskenpflicht in Supermärkten findet sich „nur“ in einem verwaltungsinternen Erlass des Sozialministers (Geschäftszahl: 2020-0.210.637). Und lebensmittel- und hygienerechtliche Anforderungen werden je nach Ladengröße unterschiedlich gehandhabt. Auch interessant.
  • Es ist zu erwarten, dass auch jene Teile des Handels, die durch Betretungsverbote im Kundenbereich darnieder liegen, ebenfalls durch interne Erlässe schrittweise hochgefahren werden. Diese kommen aber in Krisenzeiten erst in letzter Minute und sind für die „Rechtsunterworfenen“ selbst nicht verbindlich. Sie richten sich ja an die weisungsunterworfene Verwaltung. Erstaunlich eigentlich, dass es trotzdem weitgehend funktioniert / funktionieren wird. Trotzdem bedauerlich, dass der Handel am Gründonnerstag (9. April 2020, 16:00 Uhr) noch nicht weiß, unter welchen Bedingungen am Osterdienstag (14. April 2020) aufgesperrt werden darf. Es gibt ja mannigfache Fragen (Wie wird die 400m² Verkaufsfläche berechnet? Sind Absperrungen von Verkaufsflächen erlaubt? Was ist mit Fachmarktzentren, bei denen es – anders als in Einkaufszentren – keinen gemeinsamen Eingang gibt?).


In dieser hektischen Zeit ist rechtlicher Rat nicht einfach. Aber wir schlagen uns wacker.

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