Anspruch auf Abgeltung von nicht verbrauchtem Urlaub
Basierend auf einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, C-233/20) verstößt § 10 Abs 2 Urlaubsgesetz (UrlG) gemäß dem eine Urlaubsersatzleistung dann nicht zusteht, wenn ein*e Arbeitnehmer*in ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt, gegen Unionsrecht. Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat nun in mehreren fortgesetzten Verfahren (ua OGH vom 17.02.2022, 9 ObA 150/21f, 9 ObA 147/21i und OGH vom 22.02.2022, 8 ObA 99/21y, 8 ObA 95/21k) diese Entscheidung berücksichtigt und ist dabei nicht von einer generellen Unanwendbarkeit des § 10 Abs 2 UrlG ausgegangen. § 10 Abs 2 UrlG hat vielmehr nur insoweit unangewendet zu bleiben, als der gemäß Unionsrecht gebührende Mindestjahresurlaub von vier Wochen betroffen ist. Für einen darüberhinausgehenden noch offenen Urlaubsanspruch gemäß Bestimmungen des österreichischen UrlG muss demgegenüber nach Ansicht des OGH weiterhin keine Urlaubsersatzleistung bezahlt werden, wenn ein*e Arbeitnehmer*in ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt.
Der EuGH hat jüngst über ein Vorabentscheidungsersuchen des OGH entschieden, in welchem die Vereinbarkeit von § 10 Abs 2 UrlG mit unionsrechtlichen Bestimmungen, in Frage gestellt wurde. Gemäß § 10 Abs 2 UrlG gebührt keine Urlaubsersatzleistung für nicht verbrauchten Urlaub (der Urlaubsanspruch aus dem laufenden Urlaubsjahr wäre dabei entsprechend zu aliquotieren), wenn ein*e Arbeitnehmer*in ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt. Der EuGH kam jedoch zu dem Schluss, dass § 10 Abs 2 UrlG gegen Unionsrecht verstößt.
Basierend auf dieser Entscheidung des EuGH setzte der OGH nun mehrere auf Grund des Vorabentscheidungsersuchens ausgesetzte Verfahren fort. Dabei sprach der OGH zunächst ganz klar aus, dass eine gegen das Unionsrecht verstoßende Regelung - und damit § 10 Abs 2 UrlG - unangewendet zu bleiben hat. Offen war für den OGH aber, ob § 10 Abs 2 UrlG nur im Hinblick auf den gemäß Artikel 7 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung gebührenden Mindestjahresurlaub von vier Wochen unangewendet zu bleiben hat oder im Hinblick auf den gesamten Urlaubsanspruch gemäß § 2 Abs 1 UrlG (abhängig von der Dauer des Arbeitsverhältnisses 25 bzw. 30 Arbeitstage; entspricht 5 bzw. 6 Wochen).
Im dem Ersuchen auf Vorabentscheidung zu Grunde liegenden Fall hatte ein Arbeitnehmer während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses vom 25. Juni 2018 bis zu seinem unberechtigten vorzeitigen Austritt am 09. Oktober 2018 einen Anspruch auf 7,33 Urlaubstage erworben. Vier Urlaubstage wurden während des Arbeitsverhältnisses konsumiert. Der Arbeitnehmer begehrte daher eine Urlaubsersatzleistung für 3,33 unverbrauchte Urlaubstage. Basierend auf dem unionsrechtlichen Mindestjahresurlaub von 4 Wochen hätte der Arbeitnehmer dagegen während seines Arbeitsverhältnisses lediglich einen Anspruch auf 5,86 Urlaubstage erworben und es wären am Ende des Arbeitsverhältnisses lediglich 1,86 Tage dieses unionsrechtlichen Mindestjahresurlaubs unverbraucht gewesen.
Für den OGH stellte sich nun die Frage, ob für die Differenz von 1,47 Tagen zwischen dem unverbrauchten unionsrechtlichen Mindestjahresurlaub und dem gemäß nationalen Regelungen gebührenden noch nicht verbrauchten Urlaub eine Urlaubsersatzleistung gebührt oder ob diese gemäß 10 Abs 2 UrlG entfallen kann.
In diesem Zusammenhang erwog der OGH, dass das Grundrecht auf bezahlten Urlaub gemäß § 31 Abs 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union nur dann für die Mitgliedstaaten gilt, wenn das Recht der Union durchgeführt wird. Damit gilt dieses Grundrecht nur im Hinblick auf den unionsrechtlichen Mindestjahresurlaub von 4 Wochen. Sofern gemäß nationalem Recht – wie in Österreich der Fall – ein darüberhinausgehender Jahresurlaubsanspruch besteht, obliegt es dagegen laut Ansicht des OGH den Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für den Anspruch auf Urlaubsersatzleistung festzulegen. § 10 Abs 2 UrlG hat daher (nur) insoweit unangewendet zu bleiben, als der unionsrechtliche Mindestjahresurlaub von 4 Wochen bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbraucht ist, wobei dieser für das laufende Urlaubsjahr entsprechend zu aliquotieren ist. Für den darüberhinausgehenden nicht verbrauchten Urlaubsanspruch können die Mitgliedstaaten den Anspruch auf Urlaubsersatzleistung dagegen von der Art der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhängig machen.
Im Ergebnis muss daher im Fall eines unberechtigten vorzeitigen Austritts durch Arbeitnehmer*innen für jenen noch offenen Urlaubsanspruch keine Urlaubsersatzleistung bezahlt werden, der über den unionsrechtlichen Mindestjahresurlaub von 4 Wochen hinausgeht. Der betroffene Arbeitnehmer hatte daher im Anlassfall nur für 1,86 unverbrauchte Urlaubstage Anspruch auf Urlaubsersatzleistung. Die restlichen 1,47 unverbrauchten Urlaubstage, die über den (entsprechend aliquotierten) unionsrechtlichen Mindestjahresurlaub hinausgehen, mussten dagegen nicht finanziell abgegolten werden.