Kündigungsschutz für Arbeitnehmer*innen mit Behinderung – Geltungsbeginn
Für Arbeitnehmer*innen mit einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktion (Behinderung iSd Behinderteneinstellungsgesetzes - BEinstG) gelten eine Reihe von Schutzvorschriften, die eine Diskriminierung am Arbeitsplatz verhindern sollen. Davon umfasst ist insbesondere auch ein besonderer Kündigungsschutz für begünstigte Behinderte (i.e. Grad der Behinderung von mindestens 50%). Besonderer Kündigungsschutz bedeutet, dass die Kündigung erst nach vorheriger Zustimmung des Behindertenausschusses beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen ausgesprochen werden darf. Ab wann der besondere Kündigungsschutz gilt, hängt aber wesentlich davon ab, ob der Status als begünstigter Behinderter bereits vor Beginn des Arbeitsverhältnisses vorlag oder erst während des Arbeitsverhältnisses festgestellt wurde. Der Oberste Gerichtshof (OGH) hatte sich in zwei aktuellen Entscheidungen mit der Frage zu befassen, ab wann die Begünstigteneigenschaft der Arbeitnehmer*innen vorlag und ob dafür bereits ein Behindertenpass ausreichend ist.
Der besondere Kündigungsschutz von Arbeitnehmer*innen, die vor Beginn des Arbeitsverhältnisses dem Kreis der begünstigten Behinderten angehören, beginnt erst nach einer Dauer des Arbeitsverhältnisses von vier Jahren. Erfolgt die Feststellung der Begünstigteneigenschaft hingegen während des laufenden Arbeitsverhältnisses, beginnt der Kündigungsschutz bereits nach Ablauf von sechs Monaten (bereits vorher im Fall eines Arbeitsunfalles oder des Arbeitsplatzwechsels innerhalb eines Konzerns).
In den beiden aktuellen Verfahren stellte sich im Wesentlichen die Frage, ob die Ausstellung eines Behindertenpasses bereits die Begünstigteneigenschaft auslöst und ob somit vor Ausspruch der Kündigung die Zustimmung des Behindertenausschusses eingeholt werden müsse. In beiden Fällen wurde den Arbeitnehmer*innen vor Beginn des Arbeitsverhältnisses ein Behindertenpass ausgestellt. Die Feststellung der Eigenschaft als begünstigter Behinderter erfolgte jedoch jeweils erst nach dem Beginn des Arbeitsverhältnisses (hierbei gilt das Antragsprinzip, d.h. der*die Arbeitnehmer*in kann selbst entscheiden, ob er*sie die Rechtsfolgen, die mit der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten verbunden sind, in Anspruch nehmen möchte).
Im ersten Verfahren (OGH 25.01.2023, 8 ObA 76/22t) erfolgte die Ausstellung des Behindertenpasses im April 2018. Die Eigenschaft als begünstigter Behinderter wurde jedoch erst im Februar 2020 beantragt und mit Bescheid festgestellt.
Im zweiten Verfahren (OGH 16.02.2023, 9 ObA 130/22s) erfolgte die Ausstellung des Behindertenpasses im März 2020. Im Juni 2020 wurde die Feststellung der Begünstigteneigenschaft beantragt und ab diesem Tag auch bescheidmäßig festgestellt.
Die Arbeitnehmer*innen wurden in beiden Verfahren ohne Einholung der Zustimmung des Behindertenausschusses gekündigt, wobei die Arbeitsverhältnisse in beiden Fällen bereits länger als 6 Monate, aber noch nicht länger als 4 Jahre bestanden. Beide Arbeitnehmer*innen machten Ansprüche gegen den Arbeitgeber geltend (Feststellung des aufrechten Arbeitsverhältnisses bzw. eine Kündigungsentschädigung), da die Zustimmung des Behindertenausschusses eingeholt hätte werden müssen.
In den Verfahren war strittig, ob die Arbeitnehmer*innen durch die Ausstellung des Behindertenpasses und damit bereits vor Beginn des Arbeitsverhältnisses zum Kreis der begünstigten Behinderten zählten. Nur wenn die Begünstigteneigenschaft bereits vor Beginn des Arbeitsverhältnisses vorgelegen wäre, wäre der besondere Kündigungsschutz erst nach vier Jahren (und daher im konkreten Fall noch nicht) zur Anwendung gekommen und damit eine Kündigung ohne Zustimmung möglich.
Der OGH führte aus, dass für das Vorliegen der Begünstigteneigenschaft neben den tatsächlichen Voraussetzungen einer Behinderung von mindestens 50 % auch ein Nachweis oder Bescheid iSd § 14 Abs 1 und 2 BEinstG erforderlich sei. Der OGH stellte klar, dass es durch die Ausstellung des Behindertenpasses grundsätzlich zu einer ex-lege Feststellung der Begünstigteneigenschaft komme und damit ein Nachweis gemäß § 14 Abs 1 lit a BEinstG vorliege. Diese Begünstigteneigenschaft erlösche allerdings nach Ablauf von drei Monaten ab Rechtskraft wieder, sofern die betroffene Person nicht binnen drei Monaten einen Antrag auf bescheidmäßige Zuerkennung der Eigenschaft als begünstigter Behinderter stellt (Antragsprinzip).
Basierend auf diesem Grundsatz fiel die Entscheidung des OGH in den beiden geschilderten Verfahren daher unterschiedlich aus.
Im ersten Verfahren wurde die Begünstigteneigenschaft erst lange nach Erlöschen der Begünstigteneigenschaft auf Grund der Ausstellung des Behindertenpasses und auch erst nach Beginn des Arbeitsverhältnisses auf Antrag mit Bescheid festgestellt. Nach Ablauf von sechs Monaten war der besondere Kündigungsschutz daher bereits wirksam.
Im zweiten Verfahren wurde die Zuerkennung der Begünstigteneigeschaft innerhalb der Frist von drei Monaten beantragt und mit Bescheid festgestellt. Der besondere Kündigungsschutz wäre daher erst nach einer Dauer des Arbeitsverhältnisses von vier Jahren zur Anwendung gelangt.
Für die Praxis ergibt sich aus den Entscheidungen, dass ein Behindertenpass grundsätzlich für eine gewisse Dauer ab Eintritt der Rechtskraft als Nachweis für die Begünstigteneigenschaft von Arbeitnehmer*innen ausreicht. Um die Begünstigteneigenschaft aufrechtzuerhalten, haben Arbeitnehmer*innen innerhalb von drei Monaten ab Rechtskraft gegenüber dem Sozialministeriumservice zu erklären, dem Kreis der begünstigten Behinderten weiterhin angehören zu wollen (d.h. einen entsprechenden Antrag stellen). Allein aus dem Umstand, dass ein Behindertenpass vorliegt, ergibt sich daher nicht, ob es sich auch um einen begünstigten Behinderten mit besonderem Kündigungsschutz handelt. Zu beachten ist, dass der Kündigungsschutz unabhängig von der Kenntnis der Arbeitgeber*innen über die Begünstigteneigenschaft ist. Entscheidend ist nur, ob die Begünstigungen im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung bereits eingetreten waren.
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